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Urteil zu Vorratsdaten: Kritische Masse

Nichtig, lautet das Verdikt aus Karlsruhe, die schwerste Sanktion für verfassungswidrige Politik. Es ist das Ungeschehenmachen eines legislativen Akts, ganz so wie es sich jemand wünscht, der sich schämen soll. Hat die Politik das verdient?

Groß war alles an diesem Verfahren, die Zahl der Kläger, die Masse an erfassten Daten, die Kritik, die öffentliche Aufmerksamkeit. Groß sind auch die Folgen für die Politik: In seinem Groß-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht symbolisch die Löschtaste gedrückt und schickt Millionen Verkehrsdaten in den virtuellen Mülleimer. Im normalen Altpapier landen dagegen die Gesetze, die bisher die Vorratsdaten regelten. Nichtig, lautet das Verdikt aus Karlsruhe, die schwerste Sanktion für verfassungswidrige Politik. Es ist das Ungeschehenmachen eines legislativen Akts, ganz so wie es sich jemand wünscht, der sich schämen soll.

Hat die Politik das verdient? Zunächst einmal: Nein. Im Karlsruher Instrumentenkasten stecken noch andere Werkzeuge, solche, mit denen man das deutsche Parlament und sein Votum für die von Europa verlangte Massenerfassung behutsamer hätte demontieren können. Die Richter hätten das Gesicht der Beklagten wahren, die Regeln für vorläufig anwendbar erklären, einschränken und befristen können, ein Verfahren, auf das sie oft genug zugreifen. Aber sie wollten nicht. Sie wollten ein starkes Symbol und einen Impuls für künftige Politik. Bis hierher und nicht weiter soll es gehen, auch nicht über den Umweg der EU.

Mit Recht kann man daran fehlende richterliche Selbstbeschränkung kritisieren. Zumal in dem Urteil unverhohlen der Anspruch zum Ausdruck kommt, den maßgeblichen Grundrechtestandard für Europa definieren zu wollen. Dennoch schärft der Spruch das Bewusstsein für Daten im Zeitalter der Digitalisierung. Wenn schon der Bürger allzu leicht Privates von sich frei- und in den weltweiten Umlauf gibt, sollte der Staat nicht daraus den Schluss ziehen, es sich erst recht nehmen zu dürfen. Das Urteil geht hier einen gangbaren Weg zwischen den Ansprüchen der Strafverfolger und dem Schutz privater Sphäre. Es lässt – das ist neu – eine anlasslose Massenspeicherung grundsätzlich zu, auch für die lange Dauer von sechs Monaten. Das hat nicht nur mit dem Respekt vor der EU zu tun, sondern auch damit, dass Verkehrsdaten in der Telekommunikation für Gefahrenabwehr und Strafverfolgung nötig sind, wenn auch nicht als Massenerfassung.

Die virtuelle Grundgesamtheit von moderner Kommunikation so zu schützen wie einst den Inhalt eines Briefs, verfehlt die Lebenswirklichkeit. Konsum, Freizeit, Information, ja sogar Politik und Recht verlagern sich zunehmend in digitale (Kommunikations-)Sphären, und mit ihnen leider auch Verbrechen. Anders als seinerzeit beim Großen Lauschangriff, den das Gericht mit hohen Hürden aus guten Gründen praktisch zu Fall brachte, bleibt nach dem jüngsten Karlsruher Urteil ausreichend Raum für praktikable Regeln, die dem Rechnung tragen.

Für die Bundesjustizministerin, die in dem Verfahren auch Klägerin war, bedeutet das Urteil einen Sieg – und zugleich Arbeit. Die EU-Richtlinie besteht fort, Parlament und Regierung müssen sie umsetzen. Die EU-Justizkommissarin hat schon die Hand ausgestreckt und eine Prüfung der Richtlinie angekündigt. Auch aus Europa könnte also eine schonendere Vorgabe kommen. Man sollte aber nicht vergessen, dass es vor allem der deutsche Gesetzgeber in seiner Terrorfurcht war, der überzogen hat.

Trotzdem wäre eine schnelle neue Brüsseler Initiative zu begrüßen. Ausschließlich nationale Regelungskonzepte werden, über kurz oder lang, im Datenschutz versagen. Der Vorteil der Digitalisierung, der Wegfall von Landesgrenzen, die immerwährende Verfügbarkeit, der leichte, schnelle und gezielte Austausch rufen nach Lösungen auf zwischen- und überstaatlicher Ebene. Man kann ihnen mit Vertrauen begegnen, wie es die Worte der EU-Justizkommissarin belegen, aber auch wegen eines selbstbewusster und stärker gewordenen EU-Parlaments, das kürzlich das Bankdatenabkommen mit den USA platzen ließ. Wie die Daten selbst, so überwindet auch ein gemeinsames Verständnis für Grundrechte und Verfassung allmählich Ländergrenzen. Einer Lektion aus Karlsruhe hätte es dafür womöglich nicht bedurft.

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