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Religion: „Es sind die Gläubigen, die die Vernunft verteidigen“

Bischof Wolfgang Huber und der Philosoph Robert Spaemann über die Renaissance des Glaubens, religiöse Hatz und besoffene Forscher.

Haben wir eine Renaissance der Religionen zu erhoffen oder zu befürchten? Darüber haben kürzlich der EKD-Ratsvorsitzende Bischof Wolfgang Huber und der katholische Philosoph Robert Spaemann auf einer Veranstaltung der Stiftung Schloss Neuhardenberg diskutiert. Wir dokumentieren Auszüge des Gesprächs.

Wolfgang Huber: Der Mensch ist dasjenige Wesen, das über sich hinausstrebt und über sich hinausdenkt. Es ist sein großes Glück, wenn er dabei nicht einfach nur auf sich selber stößt, sondern in diesem über sich Hinausstreben und Hinausdenken Gott begegnet und in seiner Sehnsucht nach Transzendenz das Andere seiner Selbst findet. Offenbarungsreligionen wie das Christentum kommen ihm dabei entgegen: Gott offenbart sich als das Gegenüber der Menschen, auf das sie sich beziehen und zu dem sie in Beziehung treten können. Die Alternative dagegen, nach welcher der Mensch das Maß aller Dinge ist und in seiner Selbsttranszendenz nur auf sich selber stößt, ist unter neuzeitlichen Bedingungen gerade in Europa sehr massiv ausprobiert worden. Man hat in ihr sogar so etwas wie ein Geschichtsgesetz zu entdecken gemeint. Das Spannende an der Situation zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist, dass die Selbstverständlichkeit einer solchen Vorstellung gebrochen ist und wir neu nach Glauben, nach Religion, nach Gott fragen.

Robert Spaemann: Die Religion ist nicht ein Bestandteil der Menschwerdung des Menschen, sondern sie beginnt, wenn der Mensch da ist. Wir können das auch paläontologisch sehen – in dem Augenblick, wo Menschen über den Tod hinausdenken, treffen sie auch Vorkehrungen für die Verstorbenen. Da beginnt eine ganz andere Geschichte: nicht mehr die Evolution, sondern die Geschichte. Die Religion spielt hier von Anfang an eine entscheidende Rolle. Natürlich verhält sich die Religion zur Evolution. Sie fragt, wie kommt es zum Menschen, wie muss man diesen Prozess verstehen, und da gibt es ein Gespräch mit dem Naturwissenschaftler, mit dem Biologen. Das ist ein anderes Thema. Aber die Religion selbst beginnt dort, wo der Mensch komplett ist. Und die Menschen, die die Höhlen in Altamira gemalt haben, waren schon dieselben Leute wie wir.

Huber: Die Phänomene der neuen Wiederentdeckung von Religion tragen erhebliche Züge des Protests, des Widerspruchs in sich, insbesondere gegen den Funktionalismus der technischen Welt. Wir erleben eine Auseinandersetzung, in der die einen für sich selber die Bedeutung des Glaubens in einem positiven Sinn wieder stärker gewichten, während die anderen umso dezidierter sagen, dass sie das ablehnen und dass es nichts für sie ist. In Großbritannien und in den USA haben wir jetzt eine kämpferische Atheistenbewegung; „The Brights“ nennen sie sich, die Aufgeweckten. Sie arbeiten mit dem alten Schema, dass Religion als das überholte Vorwissenschaftliche und Religionslosigkeit als das Aufgeklärte gilt. Die Verortung der Wissenschaft auf das eine oder das andere ist in meinen Augen ein großes Problem, weil sie in sich selbst ein Element der Ideologisierung von Wissenschaft einschließt. Von daher würde ich nicht von metaphysischer Verweisung der technischen Welt reden, sondern davon, dass Glaube beziehungsweise Religion ein eigenständiges, zentrales Element der Wirklichkeit ist, in der wir leben. Nur wenn wir Religion in ihrer Eigenständigkeit würdigen, haben wir eine Chance, der Wirklichkeit näherzukommen.

Spaemann: Die neuen Atheisten in Amerika machen nicht die Spur eines Versuches, auch nur zu sagen, dass sie die Fragen beantworten könnten, die die Menschen über die Wissenschaft hinaus haben. Sie sagen, die Wissenschaft wird alles aufklären. Das ist ein neuer Dogmatismus, wie er etwa bei Daniel Dennett zum Ausdruck kommt, einem Bewusstseinstheoretiker, der schreibt: „Ich will hier gleich vorab eine Sache klarstellen, ich werde unbedingt festhalten an einem materialistisch-monistischem Verständnis der Wirklichkeit. Jede Form von Dualismus lehne ich ab – und zwar ungeachtet der Argumente, die dafür vorgebracht werden. Ich erkläre von vornherein, dass ich diese Argumente gar nicht in Betracht ziehe.“ Das ist ehrlicher Dogmatismus. Darauf kann man nur antworten: „Na schön, dann mach das mal.“ Aber du kannst nicht anderen Leuten reinreden und ihnen sagen, es sei unvernünftig, wenn sie Fragen stellen, die über diese Art Wissenschaft hinausgehen.

Huber: Eine Umfrage in Deutschland hat kürzlich ergeben, dass mehr Menschen an Engel glauben als an Gott. Das ist eine verblüffende Feststellung. Ich erinnere mich noch an Zeiten, in denen das umgekehrt war. Heute sagen viele: „Ich glaube an nichts, aber meinem Schutzengel bin ich dankbar.“ Man will also einen Bezug zum Transzendentalen haben, in einer Form, die einem selber guttut, aber nichts von einem verlangt. Eine Form soll das sein, die die jeweiligen Bedürfnisse unterstützt, aber sie nicht infrage stellt, die die eigenen Ziele bekräftigt, aber sie nicht der Prüfung aussetzt. Wir haben seit Reformation und Aufklärung stets große Stücke auf das menschliche Individuum gehalten, wir muten dem Individuum heute Aufgaben zu, die vorher die Gemeinschaft, die Gesellschaft für den Einzelnen wahrgenommen hat. Wir dürfen uns dann auch nicht wundern, wenn der Einzelne sich fragt, welche Stücke seines eigenen Glaubens er selber verantworten kann. Früher sagte man eher, den Glauben nimmt für dich schon stellvertretend die Kirche wahr, wenn du selber dahinter zurückbleibst, ist es nicht so schlimm, denn die Kirche vollzieht den Glauben ja für dich. Heute ist der Einzelne in einer viel stärkeren Weise in Anspruch genommen und zur Verantwortung gerufen. Manch einer reagiert darauf, indem er sagt: „Dann setze ich mir das auch so zusammen, wie ich es wirklich verantworten kann, und sei es in Gestalt einer Patchworkreligion.“

Spaemann: Es gibt allerdings auch die Kehrseite dieser Beliebigkeitsreligion. Menschen, die davor fliehen wollen – zum Islam. Es gibt immer mehr Konversionen zum Islam. Es ist offenbar so, dass das Christentum besonders anspruchsvoll ist, weil es zwei Dinge miteinander verbindet, die sonst oft getrennt auftreten. Nämlich eine dezidierte Überzeugung von der Wahrheit, dass Christus wirklich auferstanden ist. Paulus sagt, wenn wir uns das nur ausgedacht haben, dann sind wir ganz elend dran. Es ist aber wahr, es ist wirklich passiert. Wir sehen hier eine dezidierte Überzeugung von der Wahrheit und gleichzeitig eine dezidierte Überzeugung von der Freiheit des Menschen, diese Wahrheit zu glauben oder nicht. Da auszuweichen in die Patchworkreligion oder in eine islamische Lebensordnung, die einem sagt, so und so läuft’s – das kann verlockend sein.

Huber: Ich denke, wir müssen vom bisherigen Verständnis der Säkularisierung Abschied nehmen. Zwar bleibt es wichtig, dass wir große Stücke auf den säkularen Staat halten müssen. Wir bestehen also auf der Unterscheidung von Staat und Religion. Aber das bedeutet nicht, dass die Religion ortlos wird. Zwar ist es richtig, dass wichtige Gehalte des christlichen Glaubens in die Gesellschaft eingewandert sind. Aber das bedeutet nicht, dass es den Ursprung dieser Gehalte im Glauben selbst nicht mehr gäbe. Vielmehr müssen diese Gehalte auch immer wieder auf ihren Ursprung bezogen werden, damit sie sich erneuern und auch in die Zukunft hinein wirken können. Das ist heute entscheidend. Insofern erleben wir eine Wiederentdeckung der Religion als Lebensmacht in ihrer Bedeutung für die Menschen.

Spaemann: Nietzsche hat die Sache radikaler beschrieben, als sie heute im Allgemeinen gesehen wird. Er sagt, dass die Aufklärung selbst ein immanentes Zerstörungspotenzial hat, und zwar deshalb, weil sie in dem Augenblick, wo sie die Gottesidee zerstört, den Gedanken der Wahrheit zerstört. Nietzsche sagt, wenn Gott nicht ist, gibt es keine Wahrheit. Es gibt dann nur die individuellen Perspektiven jedes Einzelnen. Eine verbindliche Wahrheit für alle kann es dann nicht geben. Indem die Aufklärung ihre eigene Basis zerstört, die Wahrheitsidee, öffnet sie den Raum für einen neuen Mythos. Die Zukunft nach dem Nihilismus wird einer neuen Mythologie gehören, die der Mensch frei entwirft und die einen Übermenschen zur Voraussetzung hat, der dann an seine eigenen Produkte auch noch glaubt. Diese Mythologie ist allerdings kein Fundamentalismus …

Huber: … Fundamentalismus ist misslungene Modernisierung. Er ist gerade nicht eine Rückbesinnung auf Kräfte, an die sich zu erinnern etwas Gutes birgt; sondern er ist eine Reaktion auf Modernisierungsprozesse, die mit der Vorstellung verbunden ist, der Komplexität der Moderne müsste man ganz einfache Antworten entgegensetzen. Der moderne Islamismus entstand vor bald 30 Jahren mit der islamischen Revolution im Iran auf eine vergleichbare Weise. Der Versuch, eine komplexere Gesellschaft herbeizuführen, wurde dort beantwortet mit der diktatorischen Durchsetzung einfacher Wahrheiten durch eine für ihre Verwaltung zuständige Autorität. Durch die Inanspruchnahme der modernen Medien, vor allem des Satellitenfernsehens und des Internets, ist es möglich, solche geistigen Herrschaftsansprüche über alle Kontinente zu verbreiten. Von daher kann von Antimodernismus gar nicht die Rede sein, sondern eher von einem Herrschaftsanspruch, mit den Mitteln der Moderne die Moderne selbst durch einfache Wahrheiten zu überbieten. So deute ich Fundamentalismus.

Spaemann: Ich bin ganz mit Ihnen einig. Es gibt aber heute eine Gefahr innerhalb unseres Staatswesens auch in Europa. Die Kirchen begeben sich in eine bedenkliche Kooperation mit dem Staat, etwa dort, wo es um die Eliminierung unerwünschter Fundamentalismen oder Sekten geht. Kürzlich habe ich gelesen, dass ein französischer EU-Parlamentarier einen Gesetzentwurf eingebracht hat, der den Kreationismus, also die Behauptung, dass die Welt vor 6000 Jahren erschaffen und der Mensch aus Erde gemacht wurde, unter Strafe stellen will. Da müssen bei uns die Alarmglocken schrillen. Es gibt auch einen – falschen – Totalitätsanspruch der Wissenschaft, etwa gegenüber der Homöopathie. Dieser französische Abgeordnete behauptet, dass der Kreationismus dadurch, dass er wissenschaftsfeindlich ist, notwendigerweise demokratiefeindlich sei und deshalb verboten werden müsse. Die Kirchen müssten hier misstrauisch werden. Wir müssen sehr darauf aufpassen, dass auch Leute, die Unsinn reden, ohne Strafe dies tun dürfen.

Huber: Es ist für mich kein Zufall, dass ein solcher Vorschlag von einem französischen Abgeordneten kommt. Denn er zeigt, welche Art von weltanschaulichem Herrschaftsanspruch sich mit einem angeblich laizistischen System wie in Frankreich oder der Türkei verbindet. Und im Fall des Kreationismus ist in meinen Augen zunächst einmal vollkommen klar, dass man ihm nicht mit Verboten, sondern mit guter Theologie begegnen soll. Man muss klarmachen, warum Kreationismus schlechte Theologie ist, weil er die biblischen Berichte als eine pseudowissenschaftliche Weltanschauung missbraucht. Das ist das Problem.

Spaemann: Die Vernunft wird heute von der Wissenschaft selbst infrage gestellt, nicht vom Glauben. Etwa von Neurowissenschaftlern, die so viele interessante Entdeckungen gemacht haben, dass sie davon etwas besoffen sind und denken, noch mehr zu verstehen. Sie versuchen zu zeigen, dass die Vernunft nicht das ist, für was sie sich hält, sondern dass sie ein zufälliges Evolutionsprodukt sei. Deshalb sind auch Erkenntnisse nicht das, für das sie sich halten. Es geht ihnen nicht um Wahrheit, sondern um Selbstbehauptung. Man denkt, in Bezug auf Religion funktioniere das. Ich schlage vor, mal zu fragen, ob das auch für die Mathematik funktioniert. Ob ein Neurowissenschaftler den Satz des Pythagoras erklären kann? Das ist Unsinn. Ein mathematischer Beweis folgt einer mathematischen Logik. Die Frage, welche Hirnabläufe da stattfinden, trägt überhaupt nichts dazu bei zu verstehen, was ein mathematischer Satz ist. Die Neurowissenschaft trägt auch nichts dazu bei, uns zu sagen, was es mit der Religion auf sich hat – etwa wenn sie feststellt, dass bestimmte Hirnareale im religiösen Kontext besonders aktiviert werden. Diese Einsicht ist folgenlos. Ich denke vielmehr, dass es die heute Religion ist, die die Vernunft verteidigt. Die Neurowissenschaft stellt sie infrage. Der alte Gegensatz von Glaube und Vernunft ist längst überholt. Es sind die Gläubigen, die die Vernunft verteidigen.

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