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Kontrapunkt: Der Schoß ist furchtbar noch

Die Proteste junger Deutscher in London zeugen von Unbefangenheit gegenüber der eigenen Geschichte. Malte Lehming über eine Diskussionsrunde mit Thilo Sarrazin.

Zu den ulkigsten Phänomenen der neueren deutschen Geschichte zählt die ungebrochene Attraktivität der Widerstandsattitüde. Eine sich angeblich in der Minderheit befindliche Linke, die gern „Gesicht zeigt“, wehrt sich mit Händen und Füßen, Trillerpfeifen und Pflasterstränden, der Verhängung von Berufsverboten und Anrufung von Gerichten gegen das Urböse schlechthin, zumeist Faschismus genannt. Die Folgen sind weniger ulkig: Unliebsame Staatsanwälte werden strafversetzt, Bundesbanker aus dem Amt gejagt, über Gregor Gysis DDR-Vergangenheit berichten nur noch Tollkühne, die sich einen kompetenten Rechtsbeistand leisten können.

Was die neudeutschen Gesinnungspolizisten beflügelt, ist freilich nicht Mut, sondern Gratismut. Sie wissen, dass es eine stabile gesellschaftliche und parlamentarische Mehrheit für Rot-Rot-Grün gibt, die sich in den meisten Medienhäusern niederschlägt. Sie wissen, dass der Begriff „Reformkommunist“ vielerorts als Ehrentitel gilt, während der „Reformfaschist“ nicht besser angesehen sein dürfte als Adolf Hitler selbst. Sie wissen, dass unter dem Deckmantel der „Zivilcourage“ fast jede Form der Gängelung, Rigidität und des Protests möglich ist, weil niemand merkt, dass diejenigen, die sich als verfolgte Unschuld präsentieren, längst zu Verfolgern Unschuldiger geworden sind.

Eine Diskussionsrunde mit Thilo Sarrazin an der London School of Economics (LSE) musste am Montag „aus Sicherheitsgründen“ abgesagt werden, weil überwiegend deutsche Studenten dagegen interveniert hatten. Während noch wenige Tage zuvor am Tahrir-Platz in Kairo junge Menschen ihr Leben riskiert hatten, weil sie sich bevormundet fühlten von selbst ernannten Wächtern über das, was in ihrem Land öffentlich geäußert werden darf, riskierten junge Deutsche in London eine dicke Lippe, weil sie finden, dass im Namen des „gesellschaftlichen Friedens“ die Meinungsfreiheit streng kontrolliert werden müsse.

„Gott schütze uns vor Sturm und Wind und Deutschen, die im Ausland sind“: Die alte Touristenweisheit wird durch deutsche Auslands-Studenten wiederbelebt, die sich für ihre Missetaten nicht einmal schämen. Fremdschämen indes müsste man sich für sie. „Hinter dem Phänomen ,fremdschämen’ steht ein Einfühlungsprozess, in dem eine Person A sich an Stelle einer anderen Person B schämt“, schreibt die Kommunikationswissenschaftlerin Nadia Zaboura („Das emphatische Gehirn: Spiegelneuronen als Grundlage menschlicher Kommunikation“). „Person B ist sich der schämenswerten Situation nicht bewusst, Person A aber durchaus. Aus dieser peinlichen Berührtheit für die Situation, in der Person B sich unwissend befindet, schämt sich Person A also stellvertretend für diese.“

Sie wissen nicht, was sie tun. Doch das entschuldigt sie nicht restlos. Im Ausland repräsentieren sie ein Land, in dem schon zweimal – von Nazis wie von Kommunisten – die Meinungsfreiheit mit Stiefeln getreten wurde. Und dieser Tradition stehen sie ebenso unbefangen gegenüber wie ihre Großeltern, die Liegestühle am Swimmingpool mit Handtüchern besetzen. Diese imperiale Geste zeugt wie die jugendliche Widerstandsattitüde vom selben teutonisch rechthaberischen Geist. „Deutschland schafft sich ab“, behauptet Sarrazin. Manchmal hofft man, dass das stimmt.

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