zum Hauptinhalt

Kontrapunkt: Die Piraten und Berlin - Ein Unreifezeugnis

Noch blamabler als der Erfolg der Piraten ist die Panik der Öffentlichkeit, womöglich mal wieder ein Zeitgeistphänomen unterschätzt zu haben, sagt Malte Lehming. Und er droht mit einer Nadelattacke.

Herzlichen Glückwunsch, Berlin! In einem Bezirk wie Friedrichshain-Kreuzberg sind durch demokratische Wahlen Verhältnisse geschaffen worden, wie sie in undemokratischen Systemen nur durch Zwang zustande kommen. Die vereinigte Linke, wenn man sie mal so nennen darf (Grüne, SPD, Linke, Piraten, Die Partei), kommt in Friedrichshain-Kreuzberg auf 85,9 Prozent. Eines ist damit – und auch sonst – klar: Die Vergriechenlandisierung (kurz: Vergriechung) der ohnehin verarmten deutschen Hauptstadt wird sich weiter beschleunigen.

Ein Indiz dafür ist auch der Erfolg der Piraten. Erfrischend anders seien die, heißt es jetzt präventiv umarmend bis tief in die bürgerlichen Medien hinein, sie seien irgendwie noch authentisch, nicht so verbraucht und professionell, liebenswürdig naiv. Das Laienhafte, die Politclownerie der internetaffinen Jungmännervereinigung wird plötzlich unisono ins Positive gekehrt, was in einer Stadt, der es ohnehin schon so dreckig geht, dass sie kaum noch was zu verlieren hat, freilich nicht sehr verwundert.

Verwundern tut nur, dass man das Frische- und Unprofessionalitäts-Prinzip als positives Kriterium nicht längst auf andere Institutionen und Vereine übertragen hat. Herthas neuer Stürmer etwa sollte tunlichst ein übergewichtiger 60jähriger Humpelfuß sein, weil der sicher ganz anders und irgendwie erfrischend neu mit dem Ball umgehen wird. Und zur Bundeswehr kommen künftig nur noch die Ausgemusterten, die man dann mit stumpfen Messern statt mit Maschinenpistolen gegen die Taliban kämpfen lässt. Auch das wird herrlich unprofessionell sein.

Verwundern tut auch, dass die Wähler, die ja offenbar partout eine unprofessionell agierende Truppe in die Parlamente schicken wollten, nicht die FDP zur stärksten Kraft gemacht haben. Denn all die Tugenden, die man jetzt den Piraten andichtet – unerfahren, chaotisch, etwas sprunghaft in den Ansichten und unausgegoren -, findet man bei den Liberalen schließlich in Hülle und Fülle. Diese ehrliche, jugendliche Spontaneität der Röslers, Bahrs und Lindners ist doch von den Freibeutern kaum noch zu toppen. Die FDP wäre die professionellste Laienspieltruppe gewesen. Aber nein, wieder eine Chance verpasst.

Warum sich nun alle mit Nadeln bewaffnen sollten, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Das Kennzeichen dieser Wahl war die Lust an der Realitätsflucht. Was Alfred Polgar einmal das "schlichte Rülpsen des Gehirns" genannt hat (das Urteilen ohne Urteil, das Standpunkte-Fixieren ohne Standpunkt) wird langsam zur Grundstimmung in der Stadt. Wer in das Programm der Piraten blickt, findet mehr Gesinnung als Analyse. Man nehme etwas Attac, eine Prise Gender-Gebabbel (Mann und Frau gibt es nicht, sexuelle Identität entsteht im Kopf), ein existenzsicherndes Grundeinkommen "für alle Bürger mit ständigem Wohnsitz oder unbefristetem Aufenthaltsrecht in Deutschland", ein striktes Nachtflugverbot bei BBI, ein Unterrichtsfach Rauschkunde, in dem man vom "Abstinenzdogma" abrückt, die kostenlose Nutzung von Bus, U- und S-Bahn, die Auflösung der Klassenverbände in Schulen, ein kostenloses Freifunknetz (wofür "die unentgeltliche Bereitstellung geeigneter Dachflächen" ebenso erforderlich ist wie "die unentgeltliche Bereitstellung des Betriebsstroms"). Und das sind nicht etwa Randaspekte eines in sich stimmigen Programms, sondern dessen Hauptpunkte (plus "liquid democracy" und so’n Kram).

Der Erfolg der Piraten stellt den Berlinern ein Unreifezeugnis aus. Versetzung gefährdet. Und mindestens ebenso peinlich ist die verständnisinnige Beflissenheit, mit der der Quatsch schöngeredet wird. Das, was die Piraten selbst von der Politik einfordern – mehr Ehrlichkeit! – wird ihnen selbst gegenüber verweigert. Als interpretatorische Folie wird die Reaktion auf den Erfolg einer anderen Sponti-Gruppe herangezogen. Wie war das noch 1979, als die Grüne Liste erstmals in Bremen in ein Landesparlament einzog? Die galten auch als Übergangserscheinung, bis sie dann schließlich den Außenminister stellten.

Seitdem herrscht in Deutschland die Panik, irgendwann wieder den Anschluss an die Stimmung einer Jugend zu verlieren. Also wird vorauseilende Sympathie praktiziert und jedes expressive Phänomen als relevantes Zeitsymptom missverstanden. Vergessen wird dabei, dass etwa die Grünen ihren Bremer Erfolg nur deshalb stetig steigern konnten, weil sie von einer erwachsenen, kritischen Öffentlichkeit beharrlich domestiziert wurden. Trennung von den Fundis, Akzeptanz des Machtmonopols des Staates, Bejahung der Marktwirtschaft, Abschied vom Pazifismus (Kosovo, Afghanistan): All das wäre kaum geschehen, wenn die Grünen, wie die Piraten heute, von Anfang an politisch ernst genommen worden wären.

Mit jener Ehrlichkeit, die die Piraten bei den etablierten Parteien vermissen, sollte man ihnen also zurufen: Bevor ihr nicht einmal zeigt, was ihr könnt, nehmen wir allein euer Wahlergebnis nicht zum Anlass, unsere Nadeln wegzulegen, mit denen wir regelmäßig in eure Heißluftballons stechen!

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false