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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU. r) und die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Maria Böhmer (2.v.r) zu Beginn des Integrationsgipfels im Bundeskanzleramt in Berlin.

© dpa

Kontrapunkt: Eigentlich kein Einwanderungsland

Ist Deutschland denn nun ein Einwanderungsland oder nicht? Tissy Bruns geht im heutigen Kontrapunkt der Frage nach, ob Merkel in Sachen Integration verstanden hat, und wenn ja, was.

Nicht hilfreich, befand die Bundeskanzlerin vor einigen Wochen über ein Buch, das sie nach eigenem Bekenntnis nicht gelesen hat. Das Sarrazin-Paradox hat offenbar viele Gesichter. Das erste war im Gefolge der Merkel-Äußerung zu besichtigen. Viele, sehr viele Bürger sehen sich mit ihren Alltagsproblemen offensichtlich so wenig verstanden, dass jeder Politiker-Einwand gegen Sarrazin dem Autor in den Augen vieler Bürger schon deshalb Recht gab, weil er die politische Kaste gegen sich hat. Wenn Politiker A sagen, dann ist vermutlich B richtig? Ein höchst bedenkliches Reiz-Reaktionsschema, auf die reflexhafte Reaktion der Politik folgt ein Reflex aus der Bevölkerung. Man sollte annehmen, dass ein derart bekundeter Grundverdacht demokratische Politiker erschrecken müsste. Ob Merkel diesen Schrecken verspürt hat, weiß sie allein. Jedenfalls zeigt sich an ihr der zweite Effekt des Sarrazin-Paradoxes: Die Bundeskanzlerin versucht sich seit Wochen in einer Art „Sarrazin light“, um die Gemüter zu beruhigen. Multikulti ist gescheitert, hat die Bundeskanzlerin vor der jungen Union laut gerufen, und Horst Seehofer hat sie den Rücken gestärkt, jedenfalls verbal, als er sich gegen weitere Zuwanderung aus fremden Kulturkreisen gewandt hat.

Hat Merkel verstanden, und wenn ja, was? „Ist Deutschland denn nun ein Einwanderungsland oder nicht?“ fragt die Passauer Neue Presse die Kanzlerin. Am Tag des vierten Integrationsgipfels können wir folgende Antwort lesen: „Eigentlich war es das nur zwischen den 1950er Jahren und 1973. Damals fehlten Arbeitskräfte und man warb gezielt um Gastarbeiter. Danach zogen neben Familienangehörigen nur noch Bürgerkriegsflüchtlinge und Asylbewerber zu.“ Nur noch? Eine rätselhafte Antwort. In den 1970er Jahren hat noch kein Bundespräsident überhaupt nur darüber nachgedacht, ob der Islam zu Deutschland gehört, einfach, weil der Stoff für diese Frage fehlte. Integrationserfolge und –verweigerung sind, letztere zunächst heimlich, dann offen, Themen der letzten beiden Jahrzehnte. Dass 10, 13, 15 Prozent der Bevölkerung in Deutschland Menschen mit Migrationshintergrund sind, Tendenz steigend, ist erst in dieser Zeit in das Alltagsbewusstsein gedrungen und zum öffentlichen Gegenstand geworden.

Zwischen 1973 bis zum deklarierten Scheitern von Multikulti im Jahr 2010 klafft eine erstaunliche Lücke. Die erste Erklärung dafür ist banal. Der „Nachholbedarf“, den Merkel zu den Hinterlassenschaften der gescheiterten Illusion Multikulti erklärt, soll den Blick auf den Nachholbedarf verstellen, den ihr eigenes politisches Lager zu verantworten hat. Das Credo der C-Parteien war bis in dieses Jahrzehnt hinein, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Die politische Folge davon war eine Realitätsverweigerung gegenüber der tatsächlichen Zuwanderung und die gesellschaftliche eben der Verzicht auf jedes Fördern und Fordern der Migranten, das sich die Kanzlerin heute auf ihre Fahnen schreibt.

Bedenklicher aber ist die Sicht, die Haltung, die in Merkels „eigentlich“ steckt. „Eigentlich“ ist Zuwanderung nämlich nur die von Arbeitskräften. Wir haben Arbeiter gerufen, gekommen aber sind Menschen, lautete die verspätete Erkenntnis in den 1970ere Jahre, formuliert von kritischen und mitfühlenden jungen Leuten, keineswegs von Staats wegen. Wenn die Kanzlerin Einwanderung „eigentlich“ als ökonomischen Vorgang sieht, dann ist die nächste Falle schon aufgestellt. „Erst in den letzten Jahren ist die Frage von Fachkräftezuwanderung wieder auf die Tagesordnung gekommen“, setzt Merkel ihre Antwort auf die Frage fort. Wenn „Fachkräfte“ kommen sollen, wären wir wieder ein Einwanderungsland. Auch dann werden Menschen kommen, mit Kind und Kegel, mit Hoffnungen und Eigenheiten, nicht berechenbare Faktoren des Arbeitsmarktes.

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