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Konnte Heiner Geißler überhaupt Nein zu Stuttgart 21 sagen? Inzwischen diskutieren viele Politiker den Schlichterspruch.

© dpa

Kontrapunkt: Geißler konnte Stuttgart 21 nicht ablehnen

Ein Nein zu Stuttgart 21 war nicht möglich, schreibt Tissy Bruns im heutigen Kontrapunkt. Die Vorstellung, dass Entscheidungen gewählter Parlamente am Ende durch die Person eines einzigen Schlichters entschieden werden, ist ziemlich erschütternd.

Gedankenspiel: Hätte Heiner Geißler ernsthaft Nein sagen können zu Stuttgart 21? Die Kommentatoren seines Schlichterspruchs loben das „Demokratieexperiment“ für seine befriedende Wirkung, die Rückkehr der verbissenen Kontrahenten zur Sachlichkeit und die Klugheit seines Ja zu Stuttgart 21. Denn die Bedingungen, die der weise Fuchs Heiner Geißler an den Bau des Großprojekts von Stadt, Land und Bahn knüpft sind so schwer zu erfüllen, dass mindestens ein Effekt sicher ist. Den S21- Befürworter bleibt jedes Triumphgefühl so in Halse stecken, dass kein jubelnder Siegesschrei zu hören ist. Wiederum ein befriedender Effekt: kein Sieger, keine Besiegten.

Ob Geißler wirklich hätte Nein sagen können ist eine theoretische Frage, aber keine müßige. Er hätte nämlich nicht, ohne sehr viel zu riskieren. Nämlich Legitimität. In diesen Fall hätte das Wort des Schlichters gegen die Entscheidungen gewählter demokratischer Institutionen gestanden. Die Frage nach der demokratischen Legitimierung des Schlichters stünde auf der Stelle massiv im Raum. Wer hat Geißler gewählt, welche Landesverfassung, welches Gesetz sieht eine Entscheidungsinstanz vor, die aus einer einzigen Person besteht? Sein konditioniertes Ja zum Bahnhofsprojekt drängt diese Frage nicht auf, stellen sollte man sie trotzdem. Denn die Schlichtung in Stuttgart wird ja als beispielhaftes Verfahren gefeiert, das in ähnlichen Konflikten – etwa Berlin, Flugrouten – angewandt werden könnte.

Die Stuttgarter Schlichtung hatte exemplarischen Wert in zwei Punkten: Sie hat erstens eine sachliche Diskussion ermöglicht und sie hat die Transparenz gebracht, die den aufgebrachten Bürgern gefehlt hat, als die Bäume gefällt wurden. Wer bei Phoenix gelegentlich Schlichtungs-TV gesehen hat, war beeindruckt von der Sachkenntnis der Kritiker, der Ernsthaftigkeit und Fairness des Verhandlungen und begeistert vom Verhandlungsführer Heiner Geißler. Doch gerade die hochgradige Sachorientierung hat auch offenbart, dass es eine „objektive“ Wahrheit, die durch Expertenwissen festgestellt werden könnte, bei solchen Fragen nicht gibt. Ob S 21 gebaut wird oder nicht, bleibt am Ende eine politische Entscheidung und die kann nur getroffen werden über legitmierte Repräsentanten, direkte Abstimmungen über die Sache oder indirekte, durch Wahlen, die andere Repräsentanten an die Schaltstellenbringen. Wie immer man es dreht: Das Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht, muss im Spiel sein. Ein Schlichter kann es nicht ersetzen.

Die Analogie zu Tarifkonflikten, an die sich die Stuttgarter Schlichtung angelehnt hat, hinkt mächtig. Denn eine Vermittlung zwischen 50 oder 500 Euro Lohnerhöhung ist von der Sache her viel leichter kompromissfähig. Im Verfahren sind die Streithähne auf Augenhöhe und müssen die Schlichtungsspruch nicht schlucken, sondern beidseits absegnen, wenn er gelten soll.

Im Fall von S 21 ist eine Kompromissbildung in der Sache ganz anderes strukturiert; noch mehr Unterschiede liegen im Verfahren. Die Befürworter sind legitimiert im Sinne der repräsentativen Demokratie, die Kritiker können ihre Legitimation aus den Grundrechten der Meinungsfreiheit oder des Versammlungsrechts ableiten. Ganz formal muss man sagen: Die beiden Prinzipien sind in unserer repräsentativen Demokratie nicht auf Augenhöhe. Aber nur formal hat das Grundgesetz es ausdrücklich nicht gemeint. Das repräsentative Prinzip gibt den gewählten Mandatsträgern keine Generalvollmacht. Sondern erstens ohnehin nur Macht auf Zeit und zweitens sieht die freiheitliche Grundordnung die politischen Betätigung des Volks auch jenseits von Landtags- oder Bundestagswahlen ausdrücklich vor: siehe Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Ja, der ganze Stolz der Bundesrepublik ist ja die geniale Idee, manche sehr wichtige Entscheidungen aus den Parlamenten zu delegieren, wichtigstes Beispiel ist die Tarifautonomie.

Die Vorstellung, dass Entscheidungen gewählter Parlamente, die das Volk auf die Straße oder in Bürgerinitiativen treiben, am Ende durch die Person eines einzigen Schlichters entschieden werden, ist, bei aller Weisheit des Stuttgarter Spruchs, ziemlich erschütternd. Die großen außerparlamentarischen Bewegungen, ob '68, Friedens- oder Ökobewegung haben dieses Land immer vorangebracht, weil sie ausgehalten und ausgetragen wurden. Hätte ein Schlichter über Wackersdorf oder Pershing II entscheiden können? Die Vorstellung ist absurd. Die kritischen außerparlamentarischen Bewegung haben sich selten direkt durchgesetzt, aber sie haben immer dazu beigetragen, die Demokratie lebendig zu halten. Die Stuttgarter Schlichtung war nicht schlecht, ein Beispiel kann und darf das Ein-Mann-Prinzip nicht sein.

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