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1,42 Millionen Menschen beziehen seit 2005 ununterbrochen das Arbeitslosengeld II.

© dapd

Kontrapunkt: Hartz IV: Mütter auf dem Abstellgleis

Während drei Ministerpräsidenten mit Aversionen gegen die Berliner Politik versuchen, doch noch einen Kompromiss zu finden, zeigen neue Zahlen, wie viele Menschen dauerhaft von Hartz IV abhängig sind. Das Konzept vom "Fordern und Fördern" funktioniert nicht.

Die Zeiten der alten Sozialhilfe sind fast vergessen. Als sich die Massen- und Dauerarbeitslosigkeit in Deutschland ausgebreitet hat, begann ihre traurige Karriere, Sie wurde zum Abstellgleis für eine ständig wachsende Zahl von Menschen, die aus den Systemen von Arbeitslosengeld und -hilfe ausgesteuert wurden und in Sozialhilfe gerieten. Sie waren damit dürftig versorgt, tauchten in keiner Statistik der damaligen Nürnberger Bundesanstalt mehr auf und beschwerten das Bewusstsein der Öffentlichkeit nicht. Sie waren abgeschrieben. Ihr Schicksal, mehr aber noch die drückende Finanzlast, die sie für die Kommunen darstellten, war ein Motiv für die Zusammenlegung von Arbeits- und Sozialhilfe, den Kern der rot-grünen Sozialreform, genannt Hartz IV. Sie hatte eine unbestreitbar vernünftige Wirkung: Sie brachte die verdrängte Tatsache ans Licht des Tages, dass ein großer Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung in die Passivität der Sozialhilfe abgeschrieben war.

Diese Reform sollte sie "fordern und fördern". Das Fordern stellte sich ungehend ein; schon der Hartz-IV-Antrag ist für Antragsteller und Jobcenter eine Herausforderung, die Jahr für Jahr zu Beschwerden, Korrekturen und Prozessen in einer beträchtlichen Größenordnung führt. Das Fördern durch die Beratung im Jobcenter, bessere Kinderbetreuung oder zusätzliche Qualifikation war im Vergleich zur Sozialhilfe ein Fortschritt. Aber im Vergleich zum angestrebten Ziel, nämlich mehr Menschen durch Arbeit auf eigenen Füße zu stellen, stellte sich auch bei Befürwortern dieser Reform - ich gehörte dazu - bald der Eindruck ein, dass Hartz IV sein deklariertes Ziele verfehlt.

Heute haben mehr Menschen Arbeit als bei Inkrafttreten im Jahr 2005. Doch die Bilanz ist ambivalent. Gewachsen ist vor allem die Zahl der prekären Arbeitsverhältnisse. Heute bestreitet kaum jemand noch, dass die Zeit- und Leiharbeit von vielen Arbeitgebern missbräuchlich als Kostendämpfer eingesetzt wird. Die Zahl der Arbeitsverhältnisse mit Niedrigeinkommen, die durch Sozialtransfer aufgebessert werden müssen, steigt. Der Mindestlohn gehört deshalb als Thema in die Hartz-Verhandlungen und überfrachtet sie keineswegs.

Das Gefühl, dass für viele Menschen Hartz IV nur eine neue Form der alten Sozialhilfe geworden ist, bestätigt jetzt die Bundesagentur mit handfesten Zahlen. 1,42 Millionen Menschen beziehen seit 2005 ununterbrochen das Arbeitslosengeld II, wie Hartz IV offiziell heißt. Bei milder Betrachtung sind darunter viele, die nicht auf Jobsuche sind, etwa aus gesundheitlichen Gründen. Doch eine knappe halbe Million (436.000) Personen finden seit 2005 keine existenzsichernde Arbeit, obwohl sie danach suchen. Ganz gern arbeiten würden sicher auch einige der 90.000 Vorruheständler, die die Suche aufgeben haben.

Besonders bestürzend ist aber die Zahl von 370.000 Alleinerziehenden, also überwiegend Müttern, die seit 2005 in Hartz IV feststecken. Insgesamt leben 1 Million der 2 Millionen Kinder, die hierzulande von Hartz IV leben, bei 600.000 allein erziehenden Müttern. Mehr als die Hälfte davon lebt also dauerhaft von Sozialtransfer, wahrscheinlich wächst der Rest in diesen Zustand gerade hinein. Ihre Kinder wachsen über mehrere Jahre mit knappsten Mittel, ohne Väter und ohne Erfahrung mit Erwerbsarbeit in der Familie auf.

Eine traurige Bilanz. Und noch trauriger, dass diese Kinder und ihre Mütter im öffentlichen Bewusstsein heute kaum mehr Beachtung und Aufmerksamkeit finden als die Millionen Menschen, die früher in der Sozialhilfe abgestellt und abgeschrieben waren.

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