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Internetnutzer vor einem Facebook-Schriftzug.

© dpa

Kontrapunkt: Mehr Mut zum Ich im Internet

Für Transparenz sind viele, allen voran die Piraten. Aber wie verträgt sich das mit dem Recht auf Anonymität, fragt Malte Lehming. Ein freies Netz für freie Bürger braucht auch Verantwortung.

Auch in Deutschland tobte schon mal ein Karikaturenstreit, das war vor gut zwei Monaten. Das RTL-Magazin „Explosiv“ hatte einen Beitrag über die Computerspielemesse „Gamescom“ gezeigt. Darin hieß es, mehr oder weniger explizit, die Spielefreaks seien introvertiert, eher hässlich, meist männlich, aber ohne Freundin, weil kontaktscheu. Zitat: „Die überwiegende Mehrzahl aller Messebesucher trägt den Computerspieler-Einheitslook: dunkle Schlabberklamotten, die manchmal etwas streng riechen.“

Was daraufhin geschah, erinnerte an die Bilder aus der muslimischen Welt als Reaktion auf die Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Tageszeitung. Bei den Medienwächtern gingen rund 8000 Beschwerden ein, und Hacker legten den Community-Teil der RTL-Internetseite lahm. Die für RTL zuständige Niedersächsische Landesmedienanstalt (NLM) versicherte zwar, dass der gesendete Beitrag „durch seine unverblümte Tendenz sicher ärgerlich, aber keinesfalls rechtswidrig“ gewesen sei, und betonte, dass solche Beiträge in einer freiheitlichen Medienordnung toleriert werden müssten. Doch der Protest – in der Fachsprache „Shitstorm“ genannt – war derart vehement, dass sich RTL zu einer öffentlichen Entschuldigung genötigt sah. „Wenn wir Gefühle verletzt haben sollten, entschuldigen wir uns ausdrücklich dafür“, hieß es zerknirscht. Und der zuständige Redakteur fügte kleinlaut hinzu, er habe die Wirkung seines Beitrags falsch eingeschätzt.

Man sieht: Was dem frommen Muslim die Würde des Propheten, ist für einen beträchtlichen Teil der Internet-Gemeinde der eigene Ruf. Da hört der Spaß auf. Der Spaß hört auch auf bei den zentralen Themen der Netz-Frommen – beim Recht auf kostenlosen Zugriff auf alle digital verfügbaren Dokumente, Musikstücke, Videos, Bücher; beim Recht auf jede Art von gewaltverherrlichenden Videospielen; bei der Verteidigung absoluter Freiheiten im Netz („Zensursula“ von der Leyen – mit ihrem Versuch der Sperrung von Pornoseiten - kann ein Leidenslied davon singen); beim Recht auf Anonymität (gegen „Vermummungsverbote“ im Internet). Diese Themen haben auch zum Erfolg der Piratenpartei beigetragen.

So fragwürdig indes wie der emotionsüberfrachtete Kampf für einen enthemmten Netz-Liberalismus, so lächerlich wäre es, in das unreflektierte Lamento darüber einzustimmen. Wenn früher über den Untergang des Abendlandes orakelt wurde, trifft sich das gehobene Feuilleton heute gerne in Abscheubekundungen über den Furor und die Trivialitäten im Internet. Man beschwert sich über die „antiintellektuelle Hetze“ und über vermeintliche „Bildungs- und Konzentrationsdefizite“ der Leser. Dabei geht es vielen Elfenbeinautoren, wenn sie sich ins Netz begeben, kaum anders als dem alten König, der einst als Bettler verkleidet unters Volk ging und zum ersten Mal merkte, dass die Menschen eine andere Sprache sprachen, als er sie vom Hof her kannte.

Im Netz verliert sich der Kontext. Kurt Westergaard zeichnete seine Mohammed-Karikaturen nicht für gläubige Muslime in Libyen oder Pakistan, sondern für eine kleine dänische Zeitung. Doch in der digitalen Welt gibt es keinen Adressaten mehr, weil jeder Nutzer ein potenzieller Adressat ist. Deshalb aber stellt sich die Frage nach einem vermeintlichen Recht auf Anonymität umso dringlicher. Die eigene Persönlichkeit darf jeder schützen, ein generelles Klarnamengebot wäre quatsch. Wer Bücher bestellt, Banküberweisungen tätigt, Webseiten besucht oder in sozialen Netzwerken kommuniziert, kann gern – oder sollte sogar – sich ein Pseudonym zulegen.

Wer aber in einem demokratischen System an Debatten teilnimmt, für seine Ansichten also keine Repressalien zu befürchten hat, von dem darf personelle Transparenz erwartet werden. Das Recht auf Meinungsfreiheit lässt sich sinnvoll nur in einem Verantwortungsrahmen gewährleisten. Denn Worte können Folgen haben. Wer in einem voll besetzten Theater laut „Feuer“ ruft, bewirkt etwas. Für die Folgen muss er gerade stehen, sich rechtfertigen.

Wer dagegen hinter den Schutz eines Nutzernamens kriecht, um Meinungen zu verbreiten, die er sich öffentlich nicht zu sagen traut, der trägt – ob willig oder widerwillig – zum ausufernden System der üblen Nachrede und Denunziation teil. Anonymität befördert das Ausleben von extremen Gefühlen wie Hass, die in der realen Welt durch gesellschaftliche Sanktionen unterdrückt werden. In der realen Welt findet ein Dauerpöbler keine Freunde. Solche Sanktionsmechanismen fehlen in der digitalen Welt. Die Piraten sind für Transparenz. Zu wirklicher Transparenz gehört auch der Mut, Ich zu sagen.

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