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Die Diskussionen über die Tötung von Osama bin Laden reißen nicht ab.

© AFP

Kontrapunkt: Osama und wir

Einst waren es Dissidenten von jenseits des Eisernen Vorhangs, die den dauerzerknirschten Westlern moralisches Empfinden und Realitätssinn zurückbrachten. Heute müssen diese Aufgabe freiheitsliebende Muslime übernehmen.

Nehmen wir einmal an, es ist so: Dass sich die USA mit ihrem Killerkommando zur Hinrichtung Osama bin Ladens genauso verhalten haben wie die Terroristen selbst; dass die Zahl der Ermordeten und Verkrüppelten im Krieg des Westens gegen den Terror längst um ein Vielfaches höher ist als jene, die am 11. September 2001 starben; dass aus Barack Obama ein Obama bin Laden wurde; dass Folterungen im Dienst des Korans nicht schlimmer sind als im Dienst der CIA; dass der Westen durch die Gepeinigten von Abu Ghraib, die Inhaftierten von Guantanamo und die Ermordeten in ungezählten Drohneneinsätzen allen Anspruch auf moralische Überlegenheit verloren hat. Nehmen wir das alles einmal an.

Wie kommt es dann, dass jene Muslime, die sich doch eigentlich angewidert von diesem Westen abwenden müssten, dessen Werten mehr und mehr nacheifern? Dass sie in den vom Westen befreiten Ländern Irak und Afghanistan unter höchster Lebensgefahr zu den Urnen gehen; dass sie in Tunesien und Ägypten im Namen von Freiheit und Partizipation die Tyrannen stürzen; dass sie sich in Libyen mit der Nato verbünden, dem Inbegriff westlicher Hybris; dass sie in Syrien und dem Jemen auf kaum etwas sehnlicher hoffen als ein militärisches Eingreifen eben jenes satanischen Westens?

Ganz so kontaminiert, wie uns die Verächtlichmacher aus den eigenen Reihen einreden wollen, scheint das westliche System in den Augen vieler Muslime folglich nicht zu sein. Vielleicht wissen diese Muslime einfach nur - im Unterschied zu unseren Besserwissern -, dass Guantanamo im Vergleich zu den Folterkellern der iranischen Mullahs, des syrischen Diktators und des libyschen Despoten eine Art Club Méditerranée ist. Vielleicht verstehen sie, dass gezielte Drohneneinsätze allemal humaner sind als etwa der Giftgasgebrauch Saddam Husseins gegen das eigene Volk. Vielleicht sind sie zwar erbost über die Untaten von Abu Ghraib, bewundern aber eine Gesellschaft, die darüber ebenfalls empört ist und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht. Mit anderen Worten: Vielleicht haben sich die Muslime jene Maßstäbe bewahrt, die dem Westen selbst im internen Diskurs immer weiter verloren gehen.

Dem Westen gehen die Maßstäbe verloren

Das Phänomen wäre nicht neu. Auch im Kalten Krieg gab es stets willige westliche Intellektuelle, die beim damals beliebten "Systemvergleich BRD/DDR" auf beiden Seiten Licht und Schatten sahen, was im Ergebnis zum moralischen Patt führte. Und jeder Dissident, der aus Osteuropa oder der Sowjetunion auf derartig maßstabslose Nivellierer traf, wunderte sich.

Alexander Sinowjew, der vor fünf Jahren starb, beschrieb das trefflich in seinem 1980 in München geschriebenen Essay "Über die Eierschale und den Untergang des Westens". Die Sowjetbürger hätten sich in stinkend schmutzigen Kneipen oder einer jämmerlich engen Wohnung getroffen, mit Wodka betrunken, "der einem den Magen umdreht", und resümiert: "Ja, Freunde, wir leben schlimmer als die Schweine."

Als Sinowjew dann in den Westen kam, erlebte er kurioserweise das: "Da treffen sich ein paar Westler in einem Restaurant oder in einer Wohnung, wie sie sich der Sowjetbürger nicht träumen lassen würde. Sie essen sich satt an Dingen und betrinken sich mit Weinen, deren Existenz der Sowjetbürger nicht einmal vermutet, und dann nicken sie einander verständnisinnig zu und sagen mit so einem nachsichtig spöttischen Lächeln: ,Ja, Herrschaften, da kann man nichts machen, der Westen geht unter.’"

Vor 30 Jahren waren es Dissidenten von jenseits des Eisernen Vorhangs, die versuchten, vielen werterelativierenden, dauerzerknirschten Westlern moralisches Empfinden und Realitätssinn zurückzubringen. Heute müssen diese Aufgabe wohl freiheitsliebende Muslime übernehmen. Fraglich freilich, ob sie erfolgreicher sind. Denn so wie es in progressiven westlichen Kreisen weiter als anstößig gilt, etwa Stalinismus und Nationalsozialismus zu vergleichen, wird bestimmt in vielen Jahren noch die Tendenz bestehen, Osama und Obama für zwei Seiten derselben Münze zu halten. In diesem Fall nämlich hat man aus dem deutschen historischen Vergleichsverbot (Hitler-Stalin) ein Vergleichsgebot (Osama-Obama) gemacht. Immer frei nach Pippi Langstrumpf: "Ich mach’ mir die Welt, widdewidde, wie sie mir gefällt."

Die Amerikaner wollten unnötige zivile Opfer vermeiden

Was könnte nun der freiheitsliebende Muslim dem verzagten Westler erzählen? Vielleicht das: Als Barack Obama die Navy Seals losschickte, wählte er aus moralischen Gründen die riskanteste Mission. Ein paar Bomben auf den Wohnkomplex in Abbottabad zu schmeißen, wäre einfach gewesen, hätte aber auch den Tod aller Zivilisten bedeutet. Weil es galt, unnötige zivile Opfer zu vermeiden, setzte Obama das Leben von Amerikanern aufs Spiel.

Anschließend wurde Osama bin Laden an Bord des US-Flugzeugträgers "Carl Vinson" im Arabischen Meer nach islamischer Tradition beigesetzt. Der Leichnam wurde gewaschen, in ein Leichentuch gehüllt, dann wurde auf Arabisch das Totengebet gesprochen. Darin heißt es am Ende: "Gott ist der Größte. Unser Gott verzeihe diesem Toten. Gott ist der Größte." Am Ende der einstündigen Zeremonie wurde der Leichnam ins Wasser gelassen.

Halt!, brüllt da der verzagte Westler, Frevel! Es gibt im Islam keine Seebestattung! Das hätten ihm ranghohe muslimische Geistliche erzählt, die die Beisetzung kritisierten. Nun weiß der freiheitsliebende Muslim bereits, dass sein Gegenüber vom Wunsch beseelt ist, den Westen madig zu machen. Also bleibt er bewusst ruhig und klärt ihn auf (wie es etwa der Imam Khalid Latif tat, Direktor am Islamischen Zentrum der New York University): Erdbestattungen haben zwar Priorität, aber weil a) in der Kürze der Zeit (Tote müssen im Islam möglichst innerhalb von 24 Stunden beerdigt werden) kein Land hätte gefunden werden können, das den Leichnam aufnimmt, b) kein Muslim gezwungen werden kann, den Leichnam Osama bin Ladens neben denen seiner Angehörigen in derselben Erde zu dulden, und c) die Wahrscheinlichkeit groß gewesen wäre, dass ein Erdgrab zum Zerstörungs- oder Wallfahrtsort geworden wäre, sei in diesem Fall die beste Lösung in Übereinstimung mit den islamischen Geboten gefunden worden.

Und wer immer noch meint, die US-Armee habe sich bei der Tötung und Beisetzung Osama bin Ladens im Prinzip nicht anders verhalten als die Al-Qaida-Terroristen, erinnere sich kurz an das Schicksal des Journalisten Daniel Pearl. Von dessen Hinrichtung, am 1. Februar 2002 im pakistanischen Karachi, existiert ein Video. Es dauert 3 Minuten, 36 Sekunden. Erst wird Pearl die Kehle durchgeschnitten, dann wird ihm von Khalid Scheich Mohammed, der Nummer drei bei al Qaida, der Kopf abgeschlagen. Der Rest des Körpers wird in zehn Stücke geteilt und rund 50 Kilometer nördlich von Karachi verbuddelt.

So lassen sich, sine ira et studio, die meisten Einwände gegen die Tötung und Beisetzung Osama bin Ladens entkräften. Wem das zu manierlich ist, besorge sich statt dessen eine alte Live-LP von Lou Reed. Sie heißt "Take No Prisoners" (Ja, genau so). Das Lied heißt "Sweet Jane", es dauert rund acht Minuten. Lou Reed spricht darin: "Give me an issue, I give you a tissue, And wipe my ass with it." So kann man’s auch sagen.

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