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Der Tahrir-Platz in Kairo bleibt das Zentrum der Proteste.

© Reuters

Kontrapunkt: Protest als Projekt

Werden am Tahrir-Platz in Kairo tatsächlich Freiheitsrufe laut? Die Analogie zur Wendezeit 1989 könnte auch falsch sein, schreibt Malte Lehming im "Kontrapunkt". Die neuen Medien führen womöglich zu neuen Protestformen.

Da war der Wunsch wohl Vater des Gedankens: Was im Deutschen als Zeugungsmetapher ausgedrückt wird, heißt im Englischen etwas prosaischer "wishful thinking". Keiner ist ganz frei davon. In jede Analyse fließt Psychologie mit ein. Der Rückgriff auf Bekanntes soll das Unbekannte verstehen helfen. Aber Analogien können den Blick auch trüben. Wie dienlich sind die Erinnerungen an 1968 (Studentenproteste) und 1989 (Wende in Osteuropa) als Folie für die Ereignisse in Tunesien und Ägypten? Werden am Tahrir-Platz in Kairo in erster Linie Freiheitsrufe laut? Oder ist diese Interpretation zu schön, um wahr zu sein?

Die Sehnsucht nach einer Wiederholung der Geschichte ist groß: Länderübergreifend und von demokratischen Werten getrieben begehren vor allem junge Menschen im außerparlamentarischen Raum gegen die alte Ordnung auf. Sie brechen mit Traditionen, entledigen sich ihrer Ketten, reißen Mauern nieder, stürzen Tyrannen. 1968 und 1989 verführen zu solcher Lesart: Eine neue, mächtige soziale Bewegung entsteht. Der Funken der Freiheit, einmal entfacht, wird zu einem Flächenbrand.

Hoffen wir inständig, dass das stimmt! Aber diese Hoffnung darf den Verstand nicht blockieren. Viel ist geschrieben worden über die Rolle der neuen Medien - Internet, SMS, Facebook, Twitter, Youtube - bei der Entstehung sehr unterschiedlicher massenpolitischer Artikulations- und Protestformen der jüngsten Zeit. Barack Obama wurde durchs Web ins Amt getrieben; die Tea-Party-Bewegung formierte sich ebenfalls im Netz; die Michael-Jackson-Trauergemeinde entstand dort; und in Deutschland illustriert "Stuttgart 21", wie wichtig der Mobilisierungsfaktor durch die neuen Medien ist.

Andererseits ist kaum eine dieser Gemütseruptionen wirklich nachhaltig. Obamas Zustimmungswerte sind rasant nach unten gegangen, die Tea Party macht seit der letzten Kongresswahl nicht mehr von sich reden, in Tunesien ist man nach der Vertreibung des Herrschers recht schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen, und zu Stuttgart 21 erscheinen gerade die ersten Foto-Hochglanzdokumentationen, die die These vom Happening-Charakter der Demonstrationen, mit "Aktionstrainern" und Nachgesprächen, untermauern. Kein Wunder, dass Che Guevara (Europcar), Fidel Castro (Dacia Logan) und die Kommune 1 (Zalando) in diesen Tagen zu Ikonen der Werbeindustrie mutieren. Ein bisschen Aufstand ist eben auch schick.

Protest als Projekt: So schnell er anschwillt, beschleunigt durch die neuen Medien, so schnell verpufft er oft. Das Nahziel - Rücktritt eines Herrschers, Wahl eines Idols - ist erreicht, die Menschen gehen von der Straße wieder aufs Sofa zurück. Das Moment des Eruptiven ist stärker als die Verwurzelung eines Anliegens in einer neuen Werteordnung.

Das unabhängige amerikanische Meinungsforschungsinstitut "Pew Research Center" hat im April und Mai vergangenen Jahres, also acht Monate vor den Protesten, die Ägypter befragt. Dass der Islam eine große Rolle in der Politik spielen soll, befürworten 95 Prozent, die Hamas-Organisation mögen 49 Prozent, die Hisbollah 30 Prozent, Al Qaida immerhin noch 20 Prozent. Steinigung als Strafe für Ehebruch finden 82 Prozent richtig, die Todesstrafe bei Konversionen 84 Prozent, das Handabhacken bei Diebstahl 77 Prozent. Nicht ganz so eindeutig ist die Haltung zur Politik. 59 Prozent bevorzugen die Demokratie vor jeder anderen Regierungsform, aber 22 Prozent meinen auch, unter bestimmten Bedingungen sei ein nicht-demokratisches Regime besser.

Abgesehen vom sofortigen Rücktritt Hosni Mubaraks: Wissen wir, was die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz antreibt, was sie bewegt, für welches politische System sie kämpfen? Hoffen wir inständig, dass es der Funke der Freiheit ist! Aber seien wir uns, bitte sehr, nicht allzu sicher. Leider gibt es manchmal auch Dinge, die zu wahr sind, um schön zu sein.

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