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Tagesspiegel-Redakteur Christian Tretbar bloggt heute (Donnerstag, 29.09.11) live aus dem Bundestag, wo die Abgeordneten über den EFSF-Rettungsschirm abstimmen sollen. In dieser Bildergalerie finden Sie die Höhepunkte der Debatte zum Nachlesen.

© dapd

Kontrapunkt: Schweigende Abweichler wären das Ende der Demokratie

Norbert Lammert ließ vor der Abstimmung über den Euro-Rettungsschirm zwei Abweichler im Plenum sprechen. Jost Müller-Neuhof meint: Der Bundestagspräsident hat damit den Absichten des Grundgesetzes einen Dienst erwiesen.

Norbert Lammert ist als Bundestagspräsident protokollarisch zweiter Mann im Staat, eine Position, an der sich die wenigsten zu Subversion bekennen. Dennoch, seine Entscheidung, die Abgeordneten Frank Schäffler (FDP) und Klaus-Peter Willsch (CDU)  am Donnerstag bei der Abstimmung über den Euro-Rettungsschirm reden zu lassen, hatte etwas von einem parlamentarischen Heckenschuss – ob mit den Mitteln des Rechts oder gegen sie, klärt das hohe Haus nun selbst. Schäffler und Willsch, zwei Eurokurs-Abweichler, waren von ihren Fraktionen nicht auf die Rednerlisten gesetzt worden. Das entspricht der Übung des Parlaments, und Abgeordnete finden sich damit meist ab.

In der Kritik. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU).
In der Kritik. Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU).

© dpa

Doch ein Abweichler wäre kein Abweichler, fügte er sich hier wie die anderen. Also erbaten die beiden Redezeit und bekamen sie. Lammert zitiert dazu aus einem Standardkommentar zu Geschäftsordnung des Bundestags, wo es zu „Abweichlern“ heißt: „Unabhängig davon, ob sie von ihrer Fraktion als Redner gemeldet werden oder sich selbst in der Aussprache zu Wort melden, muss der Präsident ihnen mit Rücksicht auf ihr verfassungsrechtlich garantiertes Rederecht das Wort erteilen.“ Und bezog sich  auf das „Wüppesahl-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts von 1989. Der Hamburger Politiker Thomas Wüppesahl war als Abgeordneter im Bundestag bei den Grünen ausgetreten und wurde daraufhin von der Fraktion ausgeschlossen. In Karlsruhe erstritt er sich ein Rederecht in Plenum und Ausschüssen.

Die Parlamentarier, die auf Lammert einprügeln, halten ihm nun nicht ganz zu unrecht entgegen, dass sich Einzelmeinungen erst zu einem gewissen Abweichlertum verdichtet haben müssen, damit Redner als Fraktionsmitglieder Anspruch darauf haben, sich über die Fraktionsrednerliste zu Wort melden dürfen. Allerdings heißt es im Grundgesetz auch, dass die Abgeordneten Vertreter des ganzen (!) Volkes sind. Und dort steht es auch, dass der Bundestag „verhandelt“, seine Geschäftsordnung legt Wert auf Rede und Gegenrede, unterm Strich: Mit Debattenbeiträgen sollen die Volksvertreter nicht ihr Volk überzeugen, sondern das Volk soll sich überzeugen können, dass ihre Vertreter es auch seiner Vielfalt vertreten. Pluralismus als Verfassungspflicht.

Bei der Euro-Debatte vor der Abstimmung war davon wenig zu spüren, insofern mag Lammert gegen die Usancen verstoßen und einen nicht unproblematischen Präzedenzfall geschaffen haben – de facto kann nicht jeder vor dem hohen Haus zu einem Thema reden, zu dem er eine Meinung hat. Doch weil Volkes Meinung in Sachen Euro im Bundestag ansonsten untergepflügt wurde, hat er den Absichten des Grundgesetzes einen Dienst erwiesen. Ohne Abweichler gäbe es keinen Aufbruch, keine Denkanstöße. Das Schweigen des Abweichlers wäre das Ende der Demokratie.

Der Politiker Wüppesahl übrigens wurde später zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Er soll einen Raubmord mitgeplant haben. Norbert Lammert, Abweichler auch hier, entschied sich für eine ungewöhnliche Resozialisierungsmaßnahme und schickte dem Entlassenen eine Einladung zu einem Bundestags-Festakt. Wenn es im Parlament irgendwann keine Abweichler mehr gibt, Norbert Lammert wird einer bleiben.  

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