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Meinung: Kontrolle ist gut, zu viel Kontrolle ist schlechter

Roger Boyes The Times

Der Berliner Hauptbahnhof wird von Menschen, die es eigentlich besser wissen sollten, als Wunder moderner Architektur bezeichnet. Er sieht zugegebenerweise schön aus. Aber wird nicht schon Studenten beigebracht, dass die Form der Funktion untergeordnet ist? Versuchen Sie mal, den Fahrkartenschalter zu finden! Versuchen Sie, als älterer Mensch, einen Sitzplatz zu finden! Verglichen mit dem benachbarten Moabit, ist der Bahnhof ein Einkaufsparadies – aber nur weil man sonntags Tampons kaufen kann.

Falls Herr Mehdorn plant, einen weiteren wütenden Brief an meinen Chefredakteur in London zu schicken, möchte ich betonen, dass es mir nicht darum geht, den Kristallpalast in der Kanzlerwüste zu besudeln. Ich war vor kurzer Zeit in Paddington. Er ist viel kleiner als der Mehdorn-Palast, älter und hässlicher. Gleichwohl findet man dort ein Hilton, ein Medizinzentrum – man kriegt ein EKG, während man auf einen verspäteten Zug wartet –, einen Zahnarzt, zwei Supermärkte, eine Reinigung, eine Schneiderei und mehrere Kleidungsgeschäfte. Reisende sind nicht nur Konsumenten – Mehdorns große Aha-Entdeckung –, sondern auch Menschen, die Arbeit und Familienleben zusammenbringen wollen. Für solche Pendler stellt ein Bahnhof die Schnittstelle zwischen Büro und Zuhause dar.

Aber etwas sucht man auf den Londoner Bahnhöfen vergeblich: Mülleimer. „Nehmen Sie Ihren Müll mit nach Hause“, empfahl mir ein pickliger Polizist in einer gelben Neonweste. Plötzlich war Paddington nicht mehr das beneidenswerte Konsumentenparadies und Vorbild für ein dynamischeres Berlin.

Der Grund ist, natürlich, Sicherheit. Seit den Terroranschlägen in London im vergangenen Jahr sind öffentliche Mülleimer verschwunden. Vor einigen Tagen hatte die britische Verkehrspolizei vor den Bahnsteigen eine Sicherheitsschleuse aufgestellt, wie man sie vom Flughafen kennt, um Messer herauszufiltern. Ich erinnere mich an Zeiten, als die Polizei Durchsuchungsbefehle brauchte, bevor sie einem in die Taschen greifen und an den Hintern tatschen durfte. Jetzt kann sie das machen, wann sie will. Jeden Tag werden irgendwelche Häuser gestürmt, Menschen – meistens asienstämmige Briten – in Gewahrsam genommen und nach 36 Stunden wieder freigelassen. Als ich ein Teenager war, konnte man die Polizei wegen „unberechtigter Festnahme“ verklagen, wenn sie einen Fehler gemacht hatte. Heute zucken sie mit den Schultern.

Tony Blair will eine DNA-Datei der ganzen Nation aufbauen. Drei Millionen sind schon drin, von denen viele lediglich Verdächtige für einen kurzen Moment waren. In den vergangenen sechs Jahren wurden 3000 zusätzliche Delikte erschaffen. Autobahnen und Innenstädte werden fächendeckend überwacht, Nummernschilder werden gefilmt und gespeichert.

Die Fragen für eine neue Volkszählung sind bereits entwickelt: Die Bürger werden gefragt, wie viel sie verdienen, wie oft Paare die Nächte miteinander verbringen, wie es um ihre Gesundheit steht. Als ich vergangene Woche in einem Café in St John’s Wood frühstückte, war ich im Visier von fünf Videokameras. Orwells „Big Brother“ macht weiter, wo Endemols „Big Brother“ aufgehört hat.

Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit ist verzerrt worden – aus Angst vor dem Terrorismus und dem Phantom Osama. Nicht eine einzige der aktuell ergriffenen Maßnahmen in London hätte die Bombenanschläge verhindert. Man kann Sicherheit nicht messen, aber man kann die Erosion individueller Freiheit sehen und spüren. Die britische Regierung agiert, als sei jeder schuldig. Das und nicht der kräftezehrende Krieg im Irak hat die Stimmung gegen Blair und die politische Klasse drehen lassen.

Leise, aber zügig passiert in Deutschland das Gleiche. Ich kann die Politiker, die die umsichtigen deutschen Datenschutzgesetze verteidigen, an einer Hand abzählen. In Mainz experimentieren sie mit hochauflösenden Kameras, die Gesichter in einer Menschenmenge identifizieren können. Schon bald müssen Finanzberater und Anwälte die Namen von Klienten preisgeben, die der Geldwäscherei verdächtig sind. Was ist aus der Schweigepflicht geworden?

Mit dem Krieg gegen den Terror als Ausrede kriecht der britische Staat so weit in Privatleben hinein, wie wir es aus dem Schnüffelstaat DDR kennen. Gewiss, der Geheimdienst hört nicht jedes Gespräch ab. Aber er ist dazu in der Lage, und es war nie leichter, eine richterliche Genehmigung dafür zu bekommen. Deutschland sollte sich nicht von Wolfgang Schäuble diesen Weg hinunterführen lassen. Wenn Sicherheit wichtiger wird als individuelle Freiheit, dann haben Osama und seine Freunde gewonnen.

Aus dem Englischen übersetzt von Moritz Schuller.

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