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Meinung: Krähwinkel in Nadelstreifen

Es war nur eine kurze Schockstarre. Nachdem das Wahlergebnis die neoliberale Publizistik für ein paar Wochen in eine schwere Depression gestürzt hatte, die in Auswanderungswünschen kulminierte, ist nun alles wie früher.

Es war nur eine kurze Schockstarre. Nachdem das Wahlergebnis die neoliberale Publizistik für ein paar Wochen in eine schwere Depression gestürzt hatte, die in Auswanderungswünschen kulminierte, ist nun alles wie früher. Die große Koalition wird dafür kritisiert, dass sie nicht genug spart und Angela Merkel dafür, dass sie nicht tut, was sie im Wahlkampf und noch danach angekündigt hat: mehr Freiheit wagen und größere Sparsamkeit üben. Dass mehr für Familien und Kinder ausgegeben werden soll, erscheint den Kritikern als ordnungspolitischer Sündenfall. Doch wer entscheidet darüber, ob diese Politik richtig oder falsch ist?

Es ist oft gesagt und noch öfter geschrieben worden: Das Wahlergebnis erbrachte keine Mehrheit für eine schwarz-gelbe Reformagenda, im Gegenteil, es zementierte eine linke gesellschaftliche Mehrheit, die nur aus den bekannten Gründen Lafontaine und Gysi nicht handlungsfähig ist. Aus diesem Sachverhalt konnte die CDU- Vorsitzende zwei Schlüsse ziehen: entweder den des Kompromisses mit den bisher bekämpften Politikansätzen oder den der grundsätzlichen Verweigerung nach dem Motto: Da ich für meine Politik keine Mehrheit erhalten habe, vermag ich eine andere nicht zu repräsentieren. Diese Haltung wäre gesinnungsethisch, aber unpolitisch gewesen. Frau Merkel entschied sich zu Recht für den verantwortungsethischen Kompromiss der großen Koalition. An dieser Stelle reagieren die Wirtschaftsliberalen wie Spieler, die nicht verlieren können: Sie werfen die Karten auf den Tisch oder das Schachspiel um und fordern neue Regeln. Denn – so ihr Credo – Ökonomie ist wissenschaftliche Realität und also durch Mehrheitsentscheidungen nicht veränderbar. Folglich müsste die neue Kanzlerin auch in dieser von den Wählern dummerweise herbeigeführten Konstellation richtige, also neoliberale Politik treiben. Dass das letztlich auf die Abschaffung der Demokratie hinausläuft, bleibt ungesagt.

Verkompliziert wird diese Frontstellung noch dadurch, dass es oft dieselben liberalen Ökonomen sind, die Putin für seine neue Staatswirtschaft kritisieren und auf Menschenrechte und Demokratie als Wundermittel gegen die neue zaristische Autokratie setzen. Was in Russland von den Demokraten erwartet wird, soll in Deutschland eine autokratische Kanzlerin gegen die Volksmeinung durchsetzen, das Gesetz der Ökonomie. In dem einen wie in dem anderen Fall übersehen die Ungeduldigen, dass politische Mehrheiten und betriebswirtschaftliche Rechnungen verschiedenen Sphären angehören, die in jeder Wirtschaftspolitik mühevoll miteinander verwoben werden müssen. Es führt eben zu nichts, wenn das angebliche ökonomische Gesetz zwar über den Wählerwillen erhaben ist, aber keine Mehrheiten hinter sich versammeln kann.

Krähwinkel ist eben auch dort, wo Wirtschaftslobbyisten noch jede Abweichung von ihren Wünschen als Verstoß gegen die Gesetze des Marktes und schweren Nachteil im Globalisierungswettbewerb anprangern. Von Bismarck stammt die Einsicht, dass die Geschichte genauer ist als die preußische Oberrechnungskammer – aber eben erst die Geschichte. Und was die über die Wirtschaftspolitik der großen Koalition einmal schreiben wird, steht – in 50 Jahren – in den Geschichtsbüchern, nicht in den Analysen der Unternehmensberater von heute.

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