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Nichtwähler demonstrieren vor dem Reichtagsgebäude in Berlin.

© dapd

Krise der Parteien: Unsere ermattete Demokratie

Schwindsüchtige Parteien und politisches Desinteresse: Das gesellschaftliche Gefüge in Deutschland löst sich auf.

Die CSU? Eine Regionalpartei, die von der Mehrheit der Bayern nicht mehr gewählt wird. Die SPD? 23 Prozent bei der letzten Bundestagswahl, demnächst vielleicht Juniorpartner einer grün-roten Koalition in Baden-Württemberg. Die Linke? Streitet um die Einkünfte ihres Vorsitzenden und will trotz Megakrise des Kapitalismus nicht ernsthaft regieren. Die CDU? Ihre Vorsitzende ist Bundeskanzlerin, während die Partei schrumpft, Wahlen, Wähler und Identität verliert und leidet. Die FDP? Weiß weder genau, warum sie auf sagenhafte 14,6 Prozent aufgestiegen ist, und noch weniger, wie der Abstieg in Richtung Fünf-Prozent-Marke gestoppt werden kann. Und die Grünen?

Ja, die Grünen! Immerhin. Sie ziehen alle Hoffnung auf sich. Sie sind zur Projektionsfläche für alle geworden, die in einer ökonomisierten Welt der kalten Konkurrenz anständig bleiben wollen. Ja, je mehr der harte Alltag Solidarität untergräbt, desto stärker ist der Wunsch nach einer politischen Repräsentanz, die gegen alle Entsolidarisierungen die Moral hochhält.

„Egal, welche unserer Parteien dann vorn liegen sollte“, hat der baden-württembergische SPD-Generalsekretär Peter Friedrich gesagt. Wenn Schwarz-Gelb im März die Landtagswahlen verliert, dann wird eher Grün-Rot regieren, als dass die SPD dem christdemokratischen Ministerpräsidenten zu einer Koalition verhilft. Unter einem grünen Ministerpräsidenten mitregieren, das wäre eine schwere Belastungsprobe für das sozialdemokratische Selbstwertgefühls. Aber vernünftig. Der Preis für Schwarz- Rot wäre höher. Und die SPD findet zwischen ihrem Fortschrittsglauben in Gestalt eines Bahnhofsgroßprojekts und der emotionalen Nähe zu einer Bewegung, die eine kalte schwarz-gelbe Koalition zu Fall bringen könnte, ihren Kompass ohnehin nur noch darin, das Volk entscheiden zu lassen.

Er gehört eben ins letzte Jahrhundert, der lockere Spruch von „Koch und Kellner“, mit dem Gerhard Schröder vor 1998 seine rot-grüne Bundesregierung und damit, was niemand ahnte, die vorläufig letzte echte Zwei-Parteien-Koalition im Bund vorbereitet hat. 2005 folgte die große, 2009 die verspätete schwarz-gelbe Koalition, die auf ihrem langen Weg zur Macht nicht nur ihr Reformprojekt verloren hat, sondern auch den Zusammenhalt von CDU und CSU. Die alte Union mit ihrer produktiven Fähigkeit zum Zusammenraufen gibt es nicht mehr. Merkels Koalition ist de facto ein Dreierbündnis. Von „Koch“ und „Kellner“ kann auch nicht die Rede sein, weil die spektakuläre Schwäche der FDP die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin im ersten schwarz-gelben Jahr zum Papiertiger gemacht hat.

In den Überlebensnöten der Volksparteien, in den Existenzängsten von CSU und FDP spiegeln sich die schwierigen Folgen des Umbaus im Gefüge unserer Parteien. Der Drang zur Selbstbehauptung überformt latent alles andere, unnachsichtig schiebt sich immer wieder Eigennutz vor die Pflicht, dem Gemeinwohl zu dienen. Und gefährdet es damit. Wenn nicht mehr darum gekämpft wird, möglichst viele Bürger und Wähler für eine Sache, eine Partei, ein Personal, ein Konzept zu gewinnen, sondern nur noch darum, die eignen Verluste unter denen der Konkurrenz zu halten, sei es in der Koalition oder in der Wahlarena, dann verändert sich die Demokratie.

Als „asymmetrische Mobilisierung“ charakterisiert der ehemalige Berater von Edmund Stoiber, Michael Spreng, den letzten Bundestagswahlkampf der CDU. Wo immer die demoralisierte SPD noch hin wollte, die Merkel-CDU war schon da und hat damit gleichzeitig den politischen Raum für den Aufstieg der FDP frei gemacht. Der Lohn war die schwarz-gelbe Bundesregierung, der Preis das schlechteste CDU-Ergebnis seit 1953 und eine Koalition der widerstreitenden Erwartungen.

Aufgehen kann eine solche Taktik aber nur unter zwei Voraussetzungen. Die erste ist der Verlust einer politischer Alternative für die Wähler, die in der Geschichte der alten Bundesrepublik die Volksparteien Union und SPD repräsentiert haben. Es kann und muss nicht mehr um Mehrheiten für etwas gekämpft werden, weil die Unterschiede verschwimmen. Die zweite ist die Folge dieses Verlustes, nämlich die sinkende Partizipation der Bürger, die nicht mehr wissen, warum sie überhaupt wählen sollen. Bei der letzten Bundestagswahl sind knapp 30 Prozent der Wahlberechtigten, 18 Millionen Wähler, nicht an die Wahlurnen gegangen. Bei der Landtagswahl in Nordrhein- Westfalen, wegen eines möglichen Wechsels eigentlich eine spannende Entscheidung, haben 40 Prozent nicht gewählt. Auch die Grünen gewinnen deshalb nicht unbedingt mehr Menschen für ihre Politik, sondern nur einen größeren Anteil am verbleibenden Wählerkuchen. Bei der Kommunalwahl 1994 in Nordrhein-Westfalen hatten die Grünen über 100 000 Wähler mehr als mit den 12,1 Prozent bei der letzten Landtagswahl.

Die Parteiendemokratie steigt ab und die SPD geht dabei voran. 10 Millionen Wähler, mehr als die Hälfte ihrer Anhänger, hat sie zwischen 1998 und 2009 verloren. Die Volksparteien leiden unter Schwindsucht, auch das „Muster Volkspartei“ ist obsolet: Die politische Landschaft richtet sich nicht mehr wie von selbst an den Polen Union und SPD aus. Die Kleinen werden größer, Volksparteien werden sie dabei nicht. FDP und Grüne sind sich sozial ähnlicher, als ihre politischen Differenzen vermuten lassen: Sie sind die Parteien der besser Gebildeten, besser Verdienenden und vor allem sind ihre Anhänger überproportional im öffentlichen Dienst beschäftigt, also auch die besser Gesicherten.

Warum nicht ohne Volksparteien, wenn es das Volk, von dem die Staatsgewalt ausgeht, so will? Mit der Individualisierung der Gesellschaft verändert sich halt das politische Gefüge. Unverkennbar nehmen die Bürger aber Abstand nicht nur vom politischen Lager oder der Partei ihres früheren Vertrauens. Wie nie zuvor zeigen die Integrationsdebatte oder Stuttgart 21 ein allgemeines Misstrauen gegen „die Politik“, gegen die öffentlichen Eliten, ein unbestimmtes, aber heftiges Gefühl, dass Politiker überhaupt nicht mehr verstehen, welche Probleme und Sorgen die Bevölkerung beschäftigen.

Die Dramatik des politischen Umbaus im Parteiengefüge erschließt sich deshalb nicht allein aus der Betrachtung der Parteien. Fast kann man sagen: am wenigsten. Wenn normale Bürger den allfälligen Diskussionen von Politologen, Demoskopen, Parteistäben oder Redaktionen über das Fünf- Parteiensystem, neue Koalitionsoptionen, Schwarz-Grün, Rot-Rot- Grün, Jamaika, Ampel oder Grün- Rot zuhören könnten, würden viele vermutlich sagen: Eure Sorgen möchte ich haben.

Tatsächlich stehen im Fokus solcher Debatten selten die Parteien als Mittel zum gesellschaftlichen Zweck, sondern ihr Interesse an Wählereinfluss, mithin: an Macht. Das Volk aber hat sich noch mehr verändert als die Parteien, und erst recht wanken die Beziehungen zwischen Bevölkerung und Parteien.

Vereinfacht gesagt: Dem Schwund der Volksparteien seit den 1980er Jahren, dem langsamen Bindungsverlust durch soziale Differenzierung (Verlust der relativ homogenen Milieus von Arbeiterschaft, mittleren Angestellten, Selbstständigen) ist eine beschleunigte Fragmentierung und soziale Spreizung gefolgt, die mit der guten alten sozialen Marktwirtschaft nicht mehr viel zu tun hat. Der Wind der Globalisierung ist kälter durch die Gesellschaft gefahren, als es die politischen und öffentlichen Debatten reflektiert haben. Denn der öffentliche Diskurs der letzten zehn Jahre war viel mehr von den globalen Chancen der Wirtschaft und dem Anpassungszwang für die Sozialsysteme bestimmt als von den ambivalenten Alltagserfahrungen der Mehrheiten im Land.

Die aber sind: Verdichtung der Arbeit und ein Kostendruck, der Belegschaften ausgedünnt hat. Der tatsächliche Verlust der Tarifhoheit durch die neue globale Arbeitskonkurrenz. Das Schwinden des Normalarbeitsverhältnisses zugunsten der unsicheren Leiharbeit und Minijobs. Zeitverträge, die für Berufsanfänger der wirkliche Normalfall geworden sind. Ungelöste Migrations- und Bildungsprobleme. Eine beständig wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen, die von Hartz IV leben.

Parallelwelten, die offiziell nur bei Migranten ausgemacht werden, sehen die Bürger auch ganz oben in der Gesellschaft, spätestens seit die Steuerzahler 2008 die Folgen der aus den Fugen geratenen Finanzwirtschaft ausbaden mussten, deren Verursacher aber nicht zur Verantwortung gezogen worden sind. Es gibt Wut, Empörung, Unverständnis, Apathie in den verunsicherten und hoch differenzierten Mittelschichten über die Parallelwelten ganz oben und unten. Mit unberechenbaren Folgen für den politischen, sozialen und kulturellen Zusammenhalt.

Je weniger Politik und Staat imstande sind, die bindungslosen Parallelwelten ganz oben den normalen Prinzipien von Haftung und Verantwortung zu unterziehen, desto größer wird die Gefahr, dass Enttäuschungen und Druck unten ein Ventil suchen. Als Entsolidarisierung oder gar in Gestalt einer neuen Formation, die es in anderen europäischen Ländern längst gibt. Der Blick auf Deutschland im Herbst 2010 gibt nur noch wenig Sicherheit, dass uns unsere Geschichte gegen eine rechtspopulistische Partei gewissermaßen automatisch abdichtet. Der Blick in die Niederlande belehrt wiederum darüber, dass eine rechtspopulistische Partei einen Charismatiker nicht zwingend braucht, wenn das Vertrauen in die hergebrachten Parteien erst hinreichend ruiniert ist.

Doch die komplizierteren Koalitionsbildungen verstärken den Verlust an Alternativen und nötigen den Parteien eher mehr als weniger Beliebigkeit auf: Weil man mit vielen Partnern können muss, sollte man möglichst wenig Genaues versprechen. Das untergräbt die ohnehin schwachen Neigungen, um politische Konzepte zu kämpfen, und damit abermals den Trend, dass „Wählerschaft“ und „Volk“ zu wirklich unterschiedlichen Größen werden. Die Spirale geht weiter: Die Versuchung des politischen Führungspersonals, geschickt Machtkalküle vor die politischen Gestaltungsaufgaben zu stellen, führt zur weiteren Abwendung enttäuschter Wähler. Am Ende dieser Entwicklung sehen wir eine repräsentative Demokratie, in der die öffentlichen Angelegenheiten von elitären Kleingruppen untereinander ausgehandelt werden, die ihre Legitimation einer immer kleiner werdenden Wählerschaft verdanken.

Man konnte es lange als Normalisierung betrachten, wenn in einer Demokratie, die ihre Grundfragen mehr oder weniger entschieden hat, die öffentlichen Angelegenheiten nicht mehr Interesse der Mehrheit ihrer Bürger finden. Die 80er und 90er Jahre lassen sich als Phase interpretieren, in der die Deutschen, von ihrer Geschichte zum Musterdemokratentum gezwungen, ihre Wahlpartizipation dem westeuropäischen Normalmaß angenähert haben, zumal nach der Wende von 1989.

Die Autorin ist politische Chefkorrespondentin des Tagesspiegels.
Die Autorin ist politische Chefkorrespondentin des Tagesspiegels.

© Kai-Uwe He8nrich

Aber der Politikverdruss der 90er Jahre war vergleichsweise harmlos. Hatten wir bis zu jenem Zeitpunkt die Erscheinungen einer satten Demokratie (verspätet, weil sie gar nicht mehr satt war), erleben wir nun die beunruhigenden Vorzeichen einer ermatteten Demokratie. Sie spiegeln sich in den Bewegungen im Parteiengefüge, in den Beziehungen zwischen Politik und Bürgern. Nicht zufällig geht der Niedergang der SPD dem der christlichen Volksparteien voran. Sie kann sich ihren Platz in der Gesellschaft nicht beliebig aussuchen. Die rot-grüne Agenda hat vielen kleinen Leuten eine verlustreiche Anpassung abgefordert, ohne neue Chancen durch Bildung oder Mindestlöhne zu geben. Die Resignation, die wutgeladene Apathie dieser Enttäuschten, die in keiner Partei mehr ihre Vertretung sehen, geht zu Lasten der SPD. Eine andere Bürgerreaktion erlebt jetzt das schwarz-gelbe Lager, die der gebildeten, einkommens- und artikulationsstarken Bürger. Sie glauben auch nicht mehr daran, dass Politik viel ausrichten kann. Aber sie bemessen ihren Grenznutzen. Ihre Antwort ist, siehe Hamburger Schulabstimmung oder Stuttgart 21, die entschlossene Wahrnehmung ihrer Nahinteressen.

Hinter alledem lauert das ungelöste Problem: Wie findet unsere Demokratie zu vernünftigen und belastbaren Kompromissen? Man muss sich nur die Bewährungsprobe der Hoffnungen ausmalen, die sich in Baden-Württemberg auf die Grünen richten, um zu wissen, dass in einem Jahr alles ganz anders aussehen kann. Jedenfalls, wenn wir nach Erfolg oder Misserfolg von Parteien fragen. Weniger wechselhaft sind diese Strömungen in den Fundamenten der Gesellschaft, sie sind aber beunruhigender.

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