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Russland und die Ukraine: Ein schleichender Krieg

Eine Provokation hier, ein Scharmützel dort: Seit der Einigung in Genf müssen die Europäer in einem zeitlupenhaften Albtraum verfolgen, wie der Krieg in der Ukraine durch die Hintertür einzieht. Aus den lokal glimmenden Feuern könnte ein Flächenbrand entstehen.

Krieg in Europa? Vor sechs Wochen, als Russland sich handstreichartig die Krim einverleibte, klangen solche Befürchtungen weit hergeholt. Es gab keine Gegenwehr, keine tödlichen Schusswechsel. Und wenn auch Moskaus Methoden völkerrechtswidrig waren, hatten doch viele ein offenes Ohr für die Behauptung, da werde nur ein historischer Irrtum korrigiert. Gegen richtigen Krieg sprach die Vernunft, sprachen die wirtschaftlichen Interessen aller Seiten. Gute Diplomatie würde Krieg schon zu verhindern wissen. Die Einigung in Genf vor einer Woche ließ die Europäer aufatmen.

Seither müssen sie in einem quälenden, zeitlupenhaften Albtraum verfolgen, wie Krieg durch die Hintertür einzieht. Die prorussischen Milizen – angeblich spontan gebildete Selbstverteidigungskräfte, die aber verdächtig gut bewaffnet, trainiert und koordiniert wirken – erkennen die Einigung von Genf nicht an; Putin behauptet, keinen Einfluss auf sie zu haben; Kiew versucht, die Ordnung wiederherzustellen; es folgen hier eine Provokation, dort ein Scharmützel; dazu die martialische Ankündigung des Kreml, jede Beeinträchtigung eines ethnischen Russen als Angriff auf Russland zu betrachten. Zehntausende russische Elitesoldaten stehen seit Wochen an der Ostgrenze der Ukraine bereit. Auf einmal ist vorstellbar, wie aus lokal glimmenden Feuern ein Flächenbrand wird, der die Ostukraine erfasst und sich über ihren Süden nach Transnistrien ausweitet.

Geografisch liegt Kiew näher an Berlin als Rom

Allmählich wird es auch Deutschen mulmig. Droht da ein Krieg, der sie betreffen könnte? Geografisch liegt Kiew näher an Berlin als Rom. Und Slawjansk, wo jetzt tödliche Gefechte zwischen ukrainischen Truppen und Pro-Russen ausbrachen, ist näher als Madrid, wo die Bayern gerade in der Champions League spielten. An allen diesen Orten schreiben die Menschen das Jahr 2014 – und doch scheinen sie in verschiedenen Jahrhunderten zu leben. Raum und Zeit fallen in diesem Europa noch immer auseinander, trotz der angeblich unaufhaltsamen Globalisierungskräfte.

Einen Krieg mit der Nato wird Putin nicht riskieren. Das Bündnis ist militärisch allemal in der Lage, seine Mitgliedstaaten zu verteidigen. Aber er testet, wie ernst er den politischen Willen der Allianz nehmen muss. Er lässt russische Jets in Nato-Luftraum eindringen, um zu erfahren, wie schnell und wie effektiv die Abwehr reagiert. Davon hängt offenbar sein Kalkül ab, wie weit er gehen kann, in der Ukraine und anderswo. Deshalb verlegt die Nato Flugzeuge und Soldaten ins Baltikum, nach Polen und Rumänien – nicht um die Lage zuzuspitzen, sondern um eine rote Linie zu ziehen und ihre Entschlossenheit zu unterstreichen, das Bündnisgebiet zu verteidigen.

Die größte Gefahr: die Eigendynamik des schleichenden Kriegs

Putin weiß, dass weder Amerika noch Europa in der Ukraine selbst oder um der Ukraine willen eingreifen werden. Sie setzen darauf, dass ihn die ökonomischen Folgen seines Handelns abschrecken. Die Investoren ziehen Milliardensummen ab, der Rubel und die russischen Börsenkurse fallen. Und sie hoffen, dass es Putin zumindest derzeit nicht um die Aufteilung der Ukraine geht, weil er sich mit dem Teilanschluss die Instabilität ins eigene Reich holen würde. Sondern um ihre Destabilisierung, weil er dann umso leichter Druck auf Kiew ausüben kann.

Die größte Gefahr aber droht aus den unkalkulierbaren Entwicklungen und der Eigendynamik des schleichenden Kriegs. Wer kann die prorussischen Milizen in der Ostukraine kontrollieren, wenn Putin das nicht vermag, wie er sagt. Oder wenn er nicht will?

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