zum Hauptinhalt
Ukrainische Truppen in der ostukrainischen Stadt Perewalsk.

© Reuters

Krise in der Ukraine: Opfer des Krieges sind nicht nur die Toten

Der Krieg in der Ukraine ist nicht nur auf das Militär beschränkt. Es stirbt die Zivilgesellschaft, ehe sie wachsen konnte. Zu spüren bekommen das häufig jene, die sich am wenigsten wehren können.

In der Ostukraine sterben Menschen. Täglich. Das hören und sehen wir in den Nachrichten. Am Montag haben Separatisten erneut ein Flugzeug abgeschossen. In den Kämpfen um Lugansk und Donezk waren in den 24 Stunden zuvor mindestens 26 Menschen ums Leben gekommen.

Opfer des Krieges sind aber nicht nur die Toten und Verletzten. Opfer sind nicht nur die Menschen, die in den Kampfgebieten leben, ihre Häuser verloren haben, auf der Flucht sind. Auch hunderte Kilometer entfernt von den Gefechten werden Junge und Alte zu Opfern. Krieg hat tausendfache Nebenwirkungen, die selten in die Nachrichten dringen. Er ändert die Prioritäten einer Gesellschaft, lässt knappe Mittel noch knapper werden, lähmt auch die Hilfsbereitschaft des Auslandes – denn Krieg provoziert die Frage, wie sinnvoll es ist, Projekte in einem solchen Land zu unterstützen.

Um die Straßenkinder kümmert sich niemand mehr

Das bekommen jetzt, zum Beispiel, Kinder wie Katja, Taras, Kataryna, Bogdan in Kiew zu spüren. Sie sind Sozialwaisen. Über die letzten Jahre hatte sich ihnen unverhofft eine Chance auf ein einigermaßen erfülltes Leben aufgetan – weil die politischen Umbrüche in der Ukraine Hand in Hand gingen mit der Bereitschaft im Ausland, den Ukrainern auf ihrem schwierigen Weg zu helfen. Das stellt der Krieg nun infrage.

Vor 14 Jahren noch wären aus Katja, Taras, Kataryna und Bogdan Straßenkinder geworden, die in der Kanalisation hausen und an Klebstofftüten schnüffeln, um ihren Alltag zu ertragen. Die Berlinerin Barbara Monheim hatte solche Schicksale damals mit eigenen Augen gesehen; ein ukrainischer Journalist hatte sie in die unterirdische Welt des Abwassersystems geführt. Monheim war so erschüttert, dass sie versprach, ein Waisenhaus in Kiew zu bauen.

Was sie sich damit auflud, konnte sie damals, Gott sei Dank, nicht wissen. Es ging nicht allein um Spenden, ein Grundstück und Gebäude. Sie kämpfte gegen den Obrigkeitsstaat sozialistischer Prägung. Dessen Gesetze sahen nicht staatliche Waisenheime nicht vor. Sie kämpfte gegen Korruption. Sie versuchte, den Gedanken der sozialen Mitverantwortung zu verbreiten, wie er ihr aus der westlichen Bürgergesellschaft vertraut war. So wurde das Projekt „Our Kids“ in Kiew zum Anwendungsbeispiel einer gesellschaftlichen Revolution. Gesetze wurden geändert, neues Denken hielt Einzug, reiche Ukrainer begannen zu spenden – erste Ansätze einer Zivilgesellschaft wurden sichtbar. Ein modernes pädagogisches Konzept entstand, das sich auf andere Heime übertragen ließe.

Im Herbst 2013 war sie am Ziel. Drei Gebäude gaben Platz für 54 Kinder, die dort in Ersatzfamilien leben. Der ukrainische Staat stellte in Aussicht, den Großteil der laufenden Kosten zu übernehmen.

Davon ist plötzlich keine Rede mehr. Die Ukraine ist im Krieg. Die Regierung hat jetzt andere Prioritäten. Nun fehlen die Mittel für den Betrieb des Heims. Wenn nicht ein Wunder geschieht, muss „Our Kids“ bald Personal entlassen. Was wird aus Katja, Taras, Kataryna, Bogdan und den anderen, wenn ihnen der Halt jäh wieder genommen wird?

Die Budgetnöte der Regierung sind einerseits nachvollziehbar. In einem Land, das um seine Existenz ringt, haben soziale Projekte das Nachsehen. Was zählen 54 Sozialwaisen in Kiew, wenn in Lugansk und Donezk binnen einer Woche weit mehr Menschen sterben? Andererseits: Worum geht es in diesen Kämpfen, wenn nicht um den Anschluss an Europa und seine Werteordnung? So jedenfalls hat der Konflikt begonnen.

Ähnliche Nöte wie „Our Kids“ erleben andere Hilfsprojekte in der Ukraine. SOS-Kinderdörfer und Altenheime in der Ostukraine werden geschlossen. Die Annexion der Krim durch Russland hat etablierte Kooperationen evangelischer Gemeinden, die Hilfe für ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Städtepartnerschaften wie die zwischen Heidelberg und Simferopol beeinträchtigt.

Der Krieg droht die Zivilgesellschaft zu ersticken

Da stirbt weit mehr als nur die materielle Unterstützung. Nachhaltiger noch hatte das Beispiel der Bürgerverantwortung in solchen Hilfsprojekten gewirkt – gerade in Gesellschaften, die im Umbruch sind wie die Ukraine nach der „Orangen Revolution“ 2004 und dem Euromaidan 2013. Nun droht der Krieg die Zivilgesellschaft zu ersticken, noch ehe sie recht wachsen und auf ihre eigenen Kräfte vertrauen konnte.

Die Not in den Kriegsgebieten ist offensichtlich, dort geht es ums nackte Überleben. Doch auch Projekte wie „Our Kids“ in Kiew benötigen Überlebenshilfe, damit der Gedanke der Mitmenschlichkeit den Krieg überlebt.

Zur Startseite