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Die Berliner Filmfestspiele gewinnen Jahr für Jahr an internationaler Bedeutung. Ähnliche Erfolge vermelden auch andere Bereiche der Berliner Kreativwirtschaft. Die Branche boomt geradezu.

© dapd

Kulturboom: Die Macht der Kunst

Nie waren die Berlinale-Tickets begehrter, nie waren Museen so gut besucht: Kunst und Kultur gewinnen an Bedeutung für Wirtschaft und Politik.

Kultur boomt. Selbst in diesen Frosttagen sind die Zuschauerschlangen vor den Ticketschaltern der Berlinale länger denn je. Und in Sichtweite der Filmfestspiele werden die Kunstliebhaber ab dem heutigen Sonntag auch in die große Gerhard-Richter-Retrospektive der Berliner Neuen Nationalgalerie strömen. Überhaupt melden die deutschen und internationalen Museen gerade wieder Besucherrekorde, und die Kasseler „documenta“, das alle fünf Jahre geöffnete Riesenschaufenster der neuen Künste, kommt im Sommer noch hinzu.

Tatsächlich stellt der Kulturbetrieb, einschließlich der mit Design und Werbung verschwisterten „Kreativwirtschaft“, nicht nur für Berlin auch einen beträchtlichen ökonomischen Faktor dar. In Deutschland hat der Umsatz der Kulturbranche bald die Größenordnung der chemischen Industrie. Trotzdem klingen hier „Branche“ und „Boom“ für viele Ohren immer noch fremd, weil nicht ganz angemessen. Kultur ist das, was eine zivilisierte Welt im Innersten zusammenhält. Die Essenz der Kultur aber ist: die Kunst. Kunst als Summe der Literatur, der Musik, des Theaters, des Films, der Malerei und anderen bildenden Künste.

Während bei der Berlinale soeben auch die Sternchen leuchten, ist Gerhard Richter, der bedeutendste lebende Maler, wahrhaftig ein Star. In der Spannweite zwischen figürlichem Menschenbild und vitaler Abstraktion der Größte, seit dem unsterblichen Picasso, seit Francis Bacon und Andy Warhol. Ein Einzelgänger, eine kühle Sonne, strahlend hoch über allen Talkshows und Eventgetümmeln. Wenn außerhalb seiner Retrospektive nun auf der Berliner Museumsinsel in der Alten Nationalgalerie Richters schwarz-weißer Stammheim-Zyklus, mit den Schatten der toten RAF-Terroristen, den Kontrast bildet zu den nebenan hängenden deutschen Romantikern, dann ist das ein Ereignis. Kein deutsches Museum wollte Richters Requiem des deutschen Herbstes einst kaufen. Heute gehören die Bilder, die doch hierher, in dieses Land gehört hätten, dem New Yorker MoMA.

In Berlin erinnert die kühne Konfrontation Richters mit den dunkelschönen Romantikern Runge und Caspar David Friedrich daran, wie Utopie und Melancholie, Hoffnung, Verirrung und Wahnsinn etwas über uns und unsere Geschichte erzählen. Etwas zum Innehalten. Zum Stillwerden. Denn Kunst, die höchste Verdichtung von Zeit und Raum außer der Liebe, eröffnet uns den Grund, den Abgrund auch, warum und worin wir leben. Obwohl große Kunst alle meinungshaften Botschaften übersteigt, wirkt sie als Bild der Welt und Inbild des Menschenmöglichen auch politisch. Die Romane von Charles Dickens, dessen 200. Geburtstag gerade gefeiert wird, haben in der Heimat des Manchester-Kapitalismus weit mehr bewegt als der Londoner Zeitgenosse Karl Marx.

Also war es gut, dass Kulturstaatsminister Bernd Neumann ungewöhnlich scharf die Zensur und Verfolgung von Künstlern in China und im Iran bei der Eröffnung der Berlinale angeprangert hat. Der vielbeschworene Dialog der Kulturen muss eben mehr sein als ein Jahrmarkt der Scheinheiligkeiten – wie vor einem Jahr die vermessene „Kunst der Aufklärung“ am Pekinger Tiananmen-Platz. Umgekehrt kann das politisch Korrekte, das allzu Absichtsvolle mancher Filme in der Fülle eines Festivals nerven. Aber erst die Fülle lässt am Ende die Spitze erkennen. Das einsame oder, noch besser, von vielen geteilte Meisterwerk.

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