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Meinung: Lasst Russland nicht allein!

EU- und Nato-Erweiterung brauchen eine vertrauensbildende Komponente Von Hans-Dietrich Genscher

Am 29. März 2004 sind sieben neue Mitglieder der Nato beigetreten. Am 1. Mai 2004 wird die Europäische Union zehn neue Mitglieder haben. Zwei historische Ereignisse, die im Zusammenhang gesehen werden müssen. Bei der Überwindung der Teilung Europas ist Deutschland mit seiner Ostvertragspolitik, seiner aktiven Rolle im KSZEProzess, beim Nato-Doppelbeschluss und bei der Formulierung der westlichen Abrüstungspolitik seiner europäischen Verantwortung gerecht geworden. Unter gänzlich veränderten Umständen ist Deutschland auch jetzt gefordert und auch jetzt ist es wichtig, dass Deutschland und Frankreich dabei gemeinsam handeln.

Unserer Verantwortung entsprach die Begründung des Weimarer Dreiecks, der engen Kooperation zwischen Deutschland, Frankreich und Polen, im Jahr 1991 ebenso wie die Bemühungen der Bundesrepublik und der USA um die Heranführung der früheren Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts und der immer engeren sicherheitspolitischen Kooperation der Nato mit Russland nach der großen Wende in den Jahren 1989 bis 1991.

Der Prozess der europäischen Einigung ist ein Prozess permanenter europäischer Bewusstseinsbildung. Diese Erkenntnis war einer der Schlüssel zum Erfolg des Europas der sechs und der späteren Erweiterungen. Das muss auch jetzt gelten. Die jüngsten Entwicklungen in der Slowakei zeigen das.

Der Besuch von Bundeskanzler Schröder in Warschau am 23. März 2004 muss in dieser Perspektive gesehen werden. Der Erfolg im Sinne einer Auflockerung in der Verfassungsfrage – doppelte Mehrheit – macht das überdeutlich. Die Erwartungen der neuen EU-Mitglieder auf Verständnis für ihre jeweils besondere Situation richten sich zuallererst an Deutschland, das von Anfang an zu den Protagonisten der Osterweiterung der EU gehörte. Auch der EU-Erweiterungskommissar, Verheugen, hat zur Bildung von Vertrauen in unser Land beigetragen.

Die andere Herausforderung richtet sich auf die europäischen Staaten jenseits der neuen Ostgrenze der EU. Es gilt im Sinne des Harmel-Berichts der Nato von 1967 auf die Schaffung einer gesamteuropäischen Friedensordnung hinzuwirken, die das ganze Russland und die anderen Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion einschließt. Verhindert werden muss die Bildung eines neuen Grabens entlang der Ostgrenze der EU. Es geht um die für alle Beteiligten vorteilhafte Erschließung des gesamteuropäischen geografischen, wirtschaftlichen und politischen Raumes. Das verlangt die Schaffung einer gesamteuropäischen Infrastruktur vor allem im Bereich von Telekommunikation, des Verkehrs und der Energie. Das langfristige Ziel der EU, eine Freihandelszone mit Russland und den anderen in Frage kommenden Nachfolgestaaten der früheren Sowjetunion zu schaffen, muss weiter verfolgt werden.

Europäische Staatskunst muss darauf bedacht sein, aus der Erweiterung von EU und Nato einen Zugewinn an Kooperation, Stabilität und Vertrauen für das ganze Europa werden zu lassen. Die Besuche von Bundeskanzler Schröder und Präsident Chirac in Russland zu diesem Zeitpunkt waren deshalb wichtige vertrauensbildende Schritte. Ihnen müssen jetzt Taten folgen. Das kann zum Beispiel mit den angekündigten Vorschlägen für eine Vertiefung der Zusammenarbeit mit Russland geschehen. Der EU-Russland-Gipfel am 21. Mai sollte deshalb nicht als Routineereignis behandelt werden.

Das Gleiche gilt für die Unterstützung des Beitritts Russlands zur Welthandelsorganisation WTO. Schließlich sollten Deutschland und Frankreich der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa einen neuen Impuls geben, nachdem das Übereinkommen für die Anpassung des KSE-Vertrages in die Krise geraten ist. Kurzum, Deutschland muss seine aktive Rolle auch in den Fragen von Rüstungskontrolle und Abrüstung zurückgewinnen. Noch immer gilt das Grundverständnis der Nato, dass Rüstungskontrolle und Abrüstung integrale Bestandteile der Sicherheitspolitik sind.

Alles in allem: Wir brauchen eine neue Ostpolitik mit gänzlich neuen Inhalten und mit dem alten Ziel, Zusammenarbeit, Stabilität und Vertrauen in ganz Europa zu fördern.

Der Autor war von 1974 bis 1992 Bundesaußenminister. Foto: Mike Wolff

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