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LEICHTS Sinn: Das deutsche Wahlrecht ist zu kompliziert

Der Teufel steckt im Detail! Ganz besonders gilt dies für die Beanstandung unseres gegenwärtig geltenden Wahlrechts durch das Bundesverfassungsgericht.

Der Teufel steckt im Detail! Ganz besonders gilt dies für die Beanstandung unseres gegenwärtig geltenden Wahlrechts durch das Bundesverfassungsgericht. Es ist unmöglich, auf knappstem Raum verständlich zu erklären, weshalb es in unserem System zu einem „negativen Stimmgewicht“ bei der „Unterverteilung“ der Listenplätze kommen kann. Es lässt sich aber erklären, weshalb wir überhaupt mit solchen und ähnlichen Problemen im Wahlrecht zu tun bekommen.

Wenn der Teufel im Detail steckt, so ist des Pudels Kern die ursprüngliche Unwilligkeit des Gesetzgebers, sich für ein einfaches Wahlrecht zu entscheiden – ohne alle Kompromisse. Dafür gibt es nur zwei Möglichkeiten: Das reine Verhältniswahlrecht oder das nackte Mehrheitswahlrecht (oder Persönlichkeitswahlrecht), wie es in Großbritannien gilt. Im Verhältniswahlrecht werden die Parlamentssitze streng proportional nach den Stimmen verteilt, die auf die konkurrierenden Parteien entfallen. Bei genauerem Hinsehen kann man noch die ideengeschichtlichen Wurzeln dieser Alternative erkennen: Das Persönlichkeitswahlrecht stammt aus der personalisierten Repräsentationsvorstellung der bürgerlich-liberalen „Honoratiorendemokratie“, das Verhältniswahlrecht hingegen versucht, den vermeintlichen Notwendigkeiten der modernen Massendemokratie mit ihren dominierenden Parteiapparaten gerecht zu werden. Beide Systeme haben ihre Vor- und Nachteile – teils normativ, teils funktionell: Im reinen Verhältniswahlrecht bekommt man normativ die größtmögliche Proporzgerechtigkeit, funktionell aber die größtmögliche Zersplitterung des Parlaments, wenn man es nicht durch Sperrklauseln „verfälscht“. Im Persönlichkeitswahlrecht (wer die meisten Stimmen hat, bekommt den ganzen Wahlkreis, der Rest fällt unter den Tisch) bekommt man normativ große Probleme der Verteilungsgerechtigkeit, dafür aber funktionell zumeist eindeutige Mandatsmehrheiten – weshalb man inzwischen auch ehrlicher vom Mehrheitswahlrecht spricht.

Das deutsche Bundeswahlrecht bildet nun einen Zwitter aus beiden Systemen – und folglich zwickt es an den Ecken und Kanten. Um nur ein vereinfachtes Beispiel zu nehmen: Die Hälfte der Bundestagssitze werden in Wahlkreisen nach dem Persönlichkeitswahlrecht vergeben (Direktmandate). Wie viele Mandate eine Partei bezogen auf alle Sitze bekommt, soll sich aber allein nach dem Verhältniswahlrecht entscheiden. Nun kommt es vor, dass Parteien mehr Direktmandate erringen, als ihnen verhältnismäßig zustehen. Natürlich müssen ihnen diese als „Überhangmandate“ erhalten bleiben, denn man kann dem erfolgreichen Kandidaten ja nicht sagen: „Du hast den Wahlkreis famos gewonnen, kommst aber nicht ins Parlament.“ Soll man dann für die anderen Parteien etwa künftig Ausgleichsmandate schaffen? Was aber, wenn der Inhaber des Überhangmandates in der Legislaturperiode stirbt und nicht ersetzt wird: Sollen dann die Ausgleichsmandate wieder eingezogen werden? So oder ähnlich lassen sich bei Zwittersystemen lauter Probleme finden.

Die erste Große Koalition von 1966 – 1969 ist an den Problemen einer echten Wahlrechtsreform im Sinne der Persönlichkeitswahl gescheitert – auch, weil Union wie SPD stets auf die FDP schielten, mit der sich dann ja keine Geschäfte mehr machen lassen würden. Heute ist jede saubere Entscheidung für ein reines Mehrheitswahlrecht ganz außer Reichweite: Hätte man seinerzeit nur eine Partei mit circa zehn Prozent der Stimmen „versenken“ müssen, müsste man heute drei Parteien mit ungefähr 30 Prozent abschaffen – ein Ding der Unmöglichkeit. Also müssen wir weiterleben mit dem Zwitter und seinem Zwicken und Zwacken. Und notabene: Ohne klare Mehrheiten!

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