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Meinung: Bringen Volksentscheide den Bürgern die Politik näher?

Zur Berichterstattung über Bürgerbegehren und Volksentscheide Vielen Dank für die ausführliche Berichterstattung über das Bürgerbegehren. Wie recht Sie haben!

Zur Berichterstattung über Bürgerbegehren

und Volksentscheide

Vielen Dank für die ausführliche Berichterstattung über das Bürgerbegehren. Wie recht Sie haben! Wir ärgern uns, „wenn die Politik an (unserem) … Alltag vorbeiläuft“. Natürlich lässt sich ein Staat wie die Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich nur als repräsentative Demokratie gestalten. Aber ein wenig mehr als bisher sollten die Politiker auch zwischen den Wahlterminen ihre Wähler fragen. Der Lohn für diesen Mut wird in einer höheren Wahlbeteiligung und in einer signifikanten Abnahme der Stimmen für die Parteien am rechten und linken Rand des politischen Spektrums liegen.

Edmund Köhn, Berlin-Schmargendorf

Die ständig wiederkehrende Diskussion darüber, ob Volksentscheide und Bürgerbegehren ein Mittel sind, bürgernahe Politik zu machen, geht mir langsam auf die Nerven. Ich bezweifle, dass Volksentscheide und Bürgerbegehren ein probates Mittel sind, um nachhaltig wichtige Entscheidungen zu treffen. Die Ergebnisse solcher Entscheidungen sind absolut nicht vorhersehbar und eine langfristig angelegte Politik wird damit unmöglich gemacht. Das letzte Wort in einer Demokratie sollte nur einer haben: Das Parlament. Unsere parlamentarische Demokratie hat sich seit über 60 Jahren bewährt. Warum sollte man daran etwas ändern?

Als Nachweis dafür, dass ich mit meiner Meinung nicht alleine stehe, kann man durchaus das Ergebnis des Volksentscheids in Hamburg von vergangener Woche anführen, mit dem die Hamburger Verfassung dahingehend geändert werden sollte, dass Volksentscheide künftig verbindlich für die Regierung und das Parlament werden. 50 Prozent aller wahlberechtigten Hamburger hätten der Verfassungsänderung zustimmen müssen. Dieses Ziel wurde deutlich verfehlt.

Berichten Sie doch einmal wie andere Länder in Europa mit dieser Frage umgehen. Ich vermute, auch das Ergebnis wird meine Ansicht bestätigen.

Siegfried Krüger, Berlin-Hansaviertel

Sehr geehrter Herr Köhn,

Sehr geehrter Herr Krüger,

die Schweiz ist meines Wissens das einzige Land, dessen geltende Verfassung wichtigste (Verfassungs-) und sehr wichtige (Gesetzes-)Entscheidungen des Parlaments auf nationaler Ebene der Volksabstimmung unterstellt, und zwar ohne Ausnahmen wie z. B. nationale Sicherheits- oder Außenpolitik. Das war in der 700-jährigen Geschichte der Eidgenossenschaft nicht immer so. Das Konzept der Volksrechte (Initiative und Referendum) entwickelte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und erreichte seine heutige Ausgestaltung mit der neuen Bundesverfassung von 1999.

Im Gegensatz zum Plebiszit, das in parlamentarischen Demokratien zur Stützung der aktuellen Regierungspolitik verwendet wird, sind die schweizerischen Volksrechte als Oppositionsrechte des Volkes zu verstehen, weil es nicht im Belieben der Behörden steht, welche Entscheidungen sie dem Volk vorlegen wollen. Daraus ist ein Regierungssystem entstanden, in welchem die drei Entscheidungsorgane Regierung, Parlament und Stimmbürger in differenzierter Weise zusammenarbeiten müssen. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass das Volk die letzte Entscheidung über die wichtigsten politischen Fragen hat, dass das Parlament über die wichtigen und die Regierung über Fragen von geringerer Wichtigkeit entscheidet. Jährlich haben die Stimmberechtigten in der Schweiz allein auf Bundesebene über rund sechs Verfassungsänderungen und vier wichtige Gesetze zu entscheiden. Im Mittel der letzten 20 Jahre lag die Stimmbeteiligung bei durchschnittlich 40 Prozent. Stark polarisierende Themen erhöhen die Stimmbeteiligung (EWR- oder UN-Beitritt mit über 70 Prozent).

Die schweizerische Erfahrung zeigt, dass die direkte Demokratie weder zu einer Art von „Volksgesetzgebung“ noch zu weniger gut fundierten Gesetzen oder zur Verletzung von Minderheitsrechten führt. Es ist unbestritten, dass der Einfluss der Propaganda groß und Geld deshalb als Faktor für den Ausgang von Abstimmungen an Bedeutung gewonnen hat. Hingegen widerlegt das schweizerische Beispiel der direkten Demokratie meines Erachtens die Meinung etwa von Herrn Krüger, die direkte Beteiligung des Volkes an den politischen Entscheidungen sei angesichts der Komplexität der modernen Industriegesellschaft nicht mit Erfolg praktizierbar. Es trifft indessen zu, dass die direkte Demokratie das Tempo des Gesetzgebungsprozesses bremst. Dies muss aber nicht nur nachteilig sein!

Die direkte Demokratie beteiligt die heterogene schweizerische Gesellschaft auf Dauer an den gemeinsamen politischen Fragen. Diese Integrationswirkung dürfte seit 1874 für den Zusammenhalt der schweizerischen Gesellschaft wichtig gewesen sein. Bedenkt man, dass in der Schweiz die direkte Demokratie auch auf kantonaler und kommunaler Ebene praktiziert wird, steht außer Frage, dass Volksentscheide dem Bürger die Politik näher bringen.

Mit freundlichen Grüßen

— Dr. Christian Blickenstorfer,

Botschafter der Schweiz in Berlin

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