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Meinung: Gehört die Ukraine in die EU?

„Gericht urteilt: Neue Stichwahl in Kiew“ vom 4. Dezember 2004 Ich bin geborener Rostocker und lebe seit zehn Jahren in Kiew.

„Gericht urteilt: Neue Stichwahl in Kiew“ vom 4. Dezember 2004

Ich bin geborener Rostocker und lebe seit zehn Jahren in Kiew. Von 1995 bis 2001 als Geschäftsführer von Hoechst Schering AgrEvo. Seit 2002 baue ich ein eigenes Unternehmen in der ukrainischen Provinz auf, gemeinsam mit schwedischen und norwegischen Partnern.

Ich habe eine ukrainische Familie, und meine Frau ist in der demokratischen Opposition aktiv. Sie war als Wahlbeobachterin der Opposition bei der Stichwahl im Wahllokal von Präsident Kutschma eingesetzt. Meine Frau liebt ihr Land. Ich bin in der DDR großgeworden, bin aus Überzeugung mit 18 der SED beigetreten und hatte dort an Ideale geglaubt. Genauso ging es meiner Frau in der Sowjetunion. Das wollen wir nicht noch einmal wiederholen. Wir versuchen, unsere Kinder in einem kritischen Geist zu erziehen.

Für mich ist das, was hier mit Hilfe von Herrn Putin versucht wird aufzubauen, eine faschistische Diktatur. Ich hoffe, dass hier alles friedlich abläuft und doch noch irgendein Kompromiss gefunden wird, der verhindert, dass das Land eine offene Diktatur wird. Allerdings erinnert das, was hier in diesen Tagen abläuft, eher an eine Art Mischung aus Weißrussland und Zimbabwe.

Ich fürchte, dass Präsident Kutschma, der gewiss auch seine Verdienste hat – er hat in den zurückliegenden zehn Jahren das Land zusammengehalten und konnte den nationalen und sozialen Frieden wahren – schon viel zu sehr in den Händen von Herrn Putin ist, als dass er noch Handlungsspielraum hat. Wenn keine Kompromisslösung zwischen den handelnden Akteuren in der Ukraine gefunden wird, sind die weiteren Entwicklungen wohl vorgezeichnet, und es scheint, dass Putin seit Jahren auf diesen Plan hingearbeitet hat: Nach Einsetzung von Janukowitsch als Präsident werden „aufmüpfige“ Unternehmen ohne Rücksicht auf Größe und Ansehen und das Image der Ukraine einfach „platt gemacht“ (siehe Yukos in Russland), die letzten unabhängigen Fernsehsender und Oppositionsblätter geschlossen oder gleichgeschaltet und bei den Parlamentswahlen Anfang 2006 ein Pseudo-Parlament nach sowjetischem Muster etabliert.

Putin und Kutschma scheinen entschlossen, die Sache „auszusitzen“. Sehr viel wird jetzt davon abhängen, wie der Westen reagiert. Es würde sicherlich keine einfache Entscheidung, aber ein Signal zur rechten Zeit sein, ein klares Bekenntnis abzugeben, dass man sich die Ukraine als EU-Mitglied vorstellen könnte. Es ist noch nicht zu spät, oder wie es in der ukrainischen Nationalhymne heißt: „Noch ist die Ukraine nicht verloren.“

Dr. Dirk Rackow, Kiew

Sehr geehrter Herr Dr. Rackow,

die Frage einer EU-Mitgliedschaft stellt sich meiner Meinung nach heute nicht und sie sollte auch angesichts der aktuellen Ereignisse nicht entschieden werden. Nötig ist, die neue Nachbarschaftspolitik der EU schärfer zu fassen und zu dynamisieren und der Ukraine dabei eine wichtige Rolle zuzuweisen. Zweitens ist es wichtig, jetzt keine Position zu beziehen, die eine spätere Mitgliedschaft der Ukraine ausschließt. Dadurch würden die Reformer im Inneren entmutigt. Drittens wäre eine baldige Mitgliedschaft nicht sinnvoll, weil dies sowohl die EU als auch die Ukraine überfordern würde: Die EU hat gerade zehn neue Staaten aufgenommen, in zwei Jahren stellt sich die Frage des Beitritts Bulgariens, Rumäniens und Kroatiens. Und in wenigen Tagen werden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beschlossen. Dies alles in einer Situation, in der wir noch nicht wissen, ob die institutionellen Reformen der EU – die neue Verfassung – in allen Ländern akzeptiert werden. Deshalb wäre die EU nicht gut beraten, sich durch weitere rasche Beitrittsverhandlungen selbst zu überdehnen und im Inneren zu gefährden. Im Übrigen bleibt es auch für die Ukraine dabei, dass die Kopenhagener Kriterien als Beitrittsvoraussetzungen gelten.

Sicher versuchen die Vertreter des bisherigen Regimes, auf Zeit zu spielen. Doch solange es der Opposition gelingt, so viele Menschen auf den Straßen zu versammeln, bleibt der Druck erhalten.

Alle, die sich gegenwärtig mit der Krise befassen, sollten sich um eine gemäßigte Rhetorik bemühen. Es gibt auf russischer Seite soziale, wirtschaftliche und politische Interessen, so wie es auch in Westeuropa Interessen gibt. Offensichtlich hat sich die russische Führung in der Frühphase der aktuellen Krise in der Ukraine verkalkuliert. Es gibt aber Anzeichen dafür, dass sie gerade dabei ist, ihre Position zu korrigieren.

Eine Teilung des Landes wäre das denkbar schlechteste Ergebnis der Krise, weil alle durch Abspaltung autonom werdenden Landesteile selbstständig nicht überlebensfähig wären. Es kommt im Gegenteil darauf an, eine politische Lösung zu finden, die möglichst große Teile der Gesellschaft einbindet. Dazu könnten auch Verfassungsreformen beitragen, die die Gewichte zwischen Präsident, Regierung und Parlament in eine neue Balance bringen.

— Prof. Dr. Klaus Segbers lehrt und forscht am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin.

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