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Meinung: Hat die Politik ein Rezept gegen die zunehmende Gewaltbereitschaft?

„Amoklauf und Gewalt in Berlin“ vom 28. Mai 2006 Sie ziehen einen Bogen von der Gewalttat in Potsdam über Uwe-Karsten Heyes Warnung zu „fast täglich neue Angriffe auf Ausländer“ bis hin zu dem Amokläufer.

„Amoklauf und Gewalt in Berlin“ vom 28. Mai 2006

Sie ziehen einen Bogen von der Gewalttat in Potsdam über Uwe-Karsten Heyes Warnung zu „fast täglich neue Angriffe auf Ausländer“ bis hin zu dem Amokläufer. Diagnose: immer unverfrorener sich artikulierende ausländerfeindliche Gewalt. Ich möchte mir die ironische Frage verkneifen, ob der Messerstecher alle Opfer auf das Merkmal Ausländer getestet hatte, bevor er sie verletzte. Nein, solange die öffentliche Meinung auf das Thema Ausländerfeindlichkeit starrt wie das Kaninchen auf die Schlange, wächst weitgehend unbemerkt im Schatten des grellen Medienlichts das eigentliche gesellschaftliche Problem weiter: Gewalt, mörderischer Hass. Hierüber bedarf es einer ehrlichen Auseinandersetzung: über die sozialen Ursachen, die materielle Armut, und genauso über die Armut an Richtung, Ziel und Verlässlichkeit bei gleichzeitigem Reichtum an Gewaltverherrlichung in Filmen und Computerspielen und dem selbst erlebten alltäglichen Druck durch schulischen Misserfolg und drohender Arbeitslosigkeit. Es sind diese hier nur kurz skizzierten widersprüchlichen Botschaften, die (zumeist) Jungmänner zu einer Art von „freien Radikalen“ werden lässt.

Dass Gewalt besonders häufig Ausländer trifft, ist psycho-logisch. Täter suchen keine Gegner, sondern Opfer, also Menschen, die in ihrem Verständnis „weiter unten in der Hierarchie“ oder schlicht „anders“ sind. Undifferenzierte Stammtisch-Analysen von konservativer Seite befeuern da genauso wie undifferenziertes „Gutmenschentum“, das Ausländer generell als Bereicherung der Gesellschaft hinstellt. Aber die Opfer können auch Obdachlose sein, Homosexuelle, Behinderte, Frauen und die Täter Ausländer.

Das Problem auf Ausländerfeindlichkeit verengen zu wollen, finde ich problematisch, vielleicht auch bequem. Dann sind es immer die anderen, die neofaschistischen Hohlköpfe mit „Toleranz-Defizit“. Es geht aber um Frust, der sich in Gewaltexzessen entlädt. Das Ziel der Gewalt scheint mir austauschbar und fast beliebig; gerade der Messerstecher, der wahllos zustach, belegt traurigerweise diese These.

Marie-Luise Beck, Berlin-Kreuzberg

Sehr geehrte Frau Beck,

ich gebe Ihnen Recht: Wir brauchen eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Ursachen ausländerfeindlicher und rassistischer Gewalt. Und natürlich auch mit den Ursachen anderer Formen von Gewalt – mit Gewalt von Ehemännern gegenüber ihren Frauen, von Eltern gegenüber ihren Kindern, von Gewalt gegenüber Homosexuellen, Obdachlosen und anderen Menschen. Es ist richtig, dass wir immer genau hinschauen müssen und nicht alle Formen von Gewalt in einen Topf werfen dürfen. Und genau deswegen ist es wichtig, dass sich die Gesellschaft eingesteht, dass die Ziele der Gewalt keineswegs immer „austauschbar und fast beliebig“ sind, wie Sie, Frau Beck, annehmen. Menschen nichtdeutscher Herkunft werden von den Nazi-Schlägern nicht zufällig, sondern ganz gezielt und mit Absicht bedroht und verprügelt. Diesem Problem müssen wir uns stellen, ohne solche rassistischen Übergriffe hinter einer allgemeinen, letztlich „beliebigen“ Gewalt zum Verschwinden zu bringen. Auch dies gehört zu der ehrlichen Auseinandersetzung, die Sie fordern.

Es ist richtig, Armut und fehlende gesellschaftliche Anerkennung können dazu führen, dass Menschen ihrem Frust durch Gewalt Ausdruck verschaffen und so versuchen, sich ein bisschen öffentliche Aufmerksamkeit und trügerisches Selbstwertgefühl zu verschaffen. Deswegen müssen wir uns um eine neue Kultur der Anerkennung bemühen, darum, dass Menschen wissen, dass sie dazugehören, dass ihre Talente und Fähigkeiten gefragt sind. Wer nicht gut in der Schule ist, ist es vielleicht auf dem Fußballplatz oder am Saxophon. Viele Kinder bekommen heute kaum die Chance, sich auszuprobieren, ihre Stärken kennen zu lernen und zu zeigen. Da wo Elternhäuser dafür nicht sorgen, tut es die Schule meist auch nicht, die Wohnquartiere machen Krisenmanagement oft erst, wenn es zu spät ist. Das kann und muss sich ändern. Allerdings müssen wir auch beachten: Viele erschütternde Gewaltexzesse lassen sich auch mit noch so plausiblen soziologischen Erklärungen nicht wegerklären. Die Verantwortung des Täters für sein Tun bleibt! Auch aus einem anderen Grund können soziale Ursachen nicht alles erklären. Seriöse Untersuchungen zeigen nämlich, dass es einen „Rassismus der Mitte“ gibt, der bis in intellektuelle Milieus hineinreicht. Bei Rassismus und Ausländerfeindlichkeit handelt es sich also keineswegs allein um Probleme der so genannten Unterschichten.

Fragt man nach Rezepten gegen die rassistische Gewalt, dann gibt es keine schnellen und einfachen Lösungen. Wichtig ist es, zivilgesellschaftliche Initiativen und Präventionsprogramme zu unterstützen, ebenso die von der rot-grünen Bundesregierung gestarteten Sonderprogramme Civitas, Entimon und Xenos. Nie darf den rassistischen Schlägern das Gefühl gegeben werden, dass man sich mit ihrer öffentlichen Präsenz abgefunden hat. Zugleich sollte sich jeder fragen, was er selbst tun kann. Politiker haben dabei eine besondere Verantwortung: Sie sollten rassistische Gewalt als das benennen, was sie ist, so genannte „No-go-Areas“ zurückerobern, nicht schweigen – all das gehört dazu. Und sie haben auf Ansprachen zu verzichten, die populistisch landen wollen und heimlich auf den Beifall der Rechten schielen. Oskar Lafontaine dürfte bei seinem Ausspruch von den „Fremdarbeitern“ jedenfalls gewusst haben, was er sagt.

Mit freundlichen Grüßen Ihre

— Katrin Göring-Eckardt (Grüne),

Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags

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