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Meinung: Identität und Anerkennung kann man nicht einfordern

„Warum ich gehe“ vom 7. Oktober 2006 Zuerst möchte ich meine Trauer über die Entscheidung von Herrn Tibi, Deutschland zu verlassen, zum Ausdruck bringen.

„Warum ich gehe“ vom 7. Oktober 2006

Zuerst möchte ich meine Trauer über die Entscheidung von Herrn Tibi, Deutschland zu verlassen, zum Ausdruck bringen. Deutschland verliert einen seiner besten Köpfe der Kulturwissenschaft. Allerdings glaube ich nicht, das es je der breiten deutschen Wissenschaft oder Gesellschaft bewusst sein wird, zumindest jetzt nicht, was dieser Weggang eigentlich bedeutet. Denn treffender hätte Bassam Tibi die lebende Belanglosigkeit des real existierenden Mainstreams deutscher Kultur und Gesellschaft kaum beschreiben können – als durch die Vielzahl der Gründe, die für seinen Abschied mitunter entscheidend sind. Bassam Tibi, so ist zu befürchten, wird nicht der Einzige sein, der diesem Land den Rücken kehren wird – letztlich aus ähnlichen Gründen.

Nikolaus Andre, Berlin-Lichterfelde

Die Provinzialität und das Fehlen wirklicher Eliten an deutschen Universitäten ist auch im gerade veröffentlichten Ranking zu erkennen. Unter den Top 100 sind drei deutsche Universitäten (Heidelberg 58, TU München 82, Uni München 98). Die Top 12 sind ausschließlich aus den USA und Großbritannien. Die Gründe werden in der deutschen Öffentlichkeit und in der Politik seit Jahren nicht zur Kenntnis genommen. Wenn wir weiterhin Wissenschaftler vergraulen, können wir auch in Zukunft mit Freude nach Oslo blicken und auf die „deutschstämmigen“ Namen stolz sein. Miesmacher und Mittelmaß das passt.

Roger Kutschki, Berlin-Zehlendorf

Die Deutschen haben ein besonderes Verhältnis zu ihrer Nation. Und sicherlich liegt der Autor auch mit der Aussage richtig, dass es nicht nur Ausländern, sondern auch Deutschen schwer fällt, von Deutschland ihre Identität abzuleiten. Mir als Deutschen ging es lange ebenso. Es muss kaum erwähnt werden, dass hierfür die Gräueltaten der Nazis mitursächlich waren. Auch die Situation nach der Einheit streute und streut noch immer Zweifel an einem einheitlichen Bild der Deutschen von sich selbst. Identität kann man aber nicht einfordern. Es ist plump festzulegen, was deutsch ist und was sich anzupassen hat. Und weil wir Deutschen nach Ausschwitz so plump nicht mehr sind, habe ich mein Land lieben gelernt.

Gerade die Zweifel an seiner Identität machen Deutschland für mich zu einem ungleich aufregenderen Land als es beispielsweise die USA sind. Aber auch wenn die Deutschen die gemeinsamen Werte noch nicht für sich mit Festigkeit gefunden haben, so sind sie doch in der Lage zu überraschen. Oder wo war Herr Tibi während der Fußball-WM? Die Presse im In- und Ausland zeigte sich hocherstaunt über den natürlichen Umgang der Deutschen (übrigens auch der türkischstämmigen Mitbürger) mit ihren Farben und der friedliche Ablauf der sogenannten Public-Viewing-Veranstaltungen wurde Deutschland im Ausland geneidet. Die Deutschen allgemein als ein Volk von Miesepetern zu bezeichnen, ist seitdem für mich untragbar und nicht bloß selbst Miesmacherei.

Identität kann man nicht einfordern, ebenso wenig wie Anerkennung. Sie sind gekränkt und wollen deshalb auswandern. Tun sie das. Oder bleiben Sie und wirken Sie mit an der Weiterentwicklung einer deutschen Identität innerhalb einer europäischen.

Daniel Steltzer, Berlin-Wedding

Herr Tibi hat auf eindrucksvolle Weise die Probleme unserer Gesellschaft in Sachen Ausländer auf den Punkt gebracht. Seit Jahren beschäftigt sich nun der Bundestag mit Immigration, Integration und „Leitkultur“. Leider aber wurde Deutschland seiner eigenen Kultur beraubt, wie Herr Tibi richtigerweise feststellt. So müssen wir Deutschen also erst mal unsere eigene Identität finden, bevor wir anderen Identität lehren können.

Desweiteren handelt es sich leider meist nur um Lippenbekenntnisse, wenn Politiker zu Toleranz auffordern, oder der Zentralrat der Juden bei politischen Inkorrektheiten mal wieder am lautesten schreit. Was aber tun jene Moralapostel aktiv um Menschen aus anderen Ländern in Deutschland eine Heimat und eine Identität zu geben?

Wir wollen keinen Rassismus in Deutschland, so viel scheint klar zu sein. Dies wird oft genug durch Gegendemonstrationen bei Fascho-Demos oder wie vor circa eineinhalb Jahren durch eine Menschenkette gegen Fremdenfeindlichkeit bei ungemütlichstem Wetter durch die gesamte Hauptstadt bewiesen. Es drängt sich aber die Frage auf, ob wir denn Ausländer wollen und ob wir bereit sind Menschen, die eine neue Heimat suchen, mit offenen Armen zu empfangen.

Max Philipp,

Heide (Schleswig-Holstein)

Ich denke, nicht nur in Deutschland grenzen sich die Menschen voneinander ab, dieses Phänomen ist bei unserer Gattung endemisch und universell; überall auf der Welt tuschelt man gern über die Nachbarn, macht man sich lustig über die Landsleute anderer Regionen, ja, sogar in den Familien gibt es mitunter Missverständnisse und Zank; wieso stellt Bassam Tibi gerade an die Deutschen so hohe Ansprüche? Sind denn Deutsche nicht Menschen wie alle anderen auch? Deutschland ist vielleicht nicht das Paradies auf Erden und die Deutschen sind bestimmt nicht allesamt und allen Fremden freundlich gesinnt; aber finden Sie nicht, dass ein Ausländer, der 1) sich halbwegs zu benehmen weiß und 2) die deutsche Sprache ausreichend beherrscht, hier eine faire Chance hat, akzeptiert und respektiert zu werden (außer von den Neonazis, natürlich!)? Ich meine: ja und nochmals ja!

Dass die Deutschen „nach Auschwitz keine Identität haben“, ist, mit Verlaub, wirklich semi-wissenschaftlich; die Deutschen haben durchaus eine Identität! Sie haben allerdings eine schwierige, ja, oft eine angeknackste Identität (und welches Volk hätte sie nicht, nach Auschwitz?) – aber auf der anderen Seite einen bewundernswerten Mut und – überwiegend! – große Ehrlichkeit gegenüber ihrer jüngsten Vergangenheit. Oder kennen Sie viele Völker, die bereit wären, ein Mahnmal über ihre größte nationale Schande mitten in ihre Hauptstadt zu stellen? Ich nicht!

Ich finde es bedauerlich, dass Bassam Tibi weggeht, denn wir können jeden liberalen Muslim im Moment gut gebrauchen! Aber noch bedauerlicher finde ich die Art, wie er seinen Weggang inszeniert; sie ist nämlich nicht sehr hilfreich, um Klischees und Vorurteile über Muslime zu entkräften.

Fernando Urrejola, Berlin-Mariendorf

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