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Meinung: Integration ist ein mühsamer, nicht endender Prozess

„Sarrazin und die Abgehobenheit der Eliten“ von A. Gauland vom 19.

„Sarrazin und die Abgehobenheit der Eliten“ von A. Gauland vom 19. Oktober

Die Heuchel- und Betroffenheitsorgie der politischen Korrektheit sagt viel mehr über die Verdrängungsmechanismen feiger, konformistischer und überforderter Eliten aus als über Herrn Sarrazin. Entsprechend trauen sich seine Möchtegern-Henker auch nicht an das, was er gesagt hat, sondern nur daran, wie er es gesagt hat. Die Angst vor einer Stigmatisierung durch die von ihnen sehr treffend benannten Standardstrafen und Foltermethoden ist bei den Eliten derart panisch, dass sie sich in einem oft ekelerregenden, vorauseilenden Gehorsam auf den Angeklagten stürzen und ihm schauprozessartig die absurdesten und sachlich falschesten Attribute anheften. Wichtig ist nicht die Qualität der eigenen Argumente, sondern die Demonstration der korrekten Meinung.

Von der schlichten Tatsachen-Richtigkeit dessen, was Sarrazin beschreibt, einmal ganz abgesehen, der wahre Skandal ist: Wer die falsche Meinung äußert, hat wieder ein Problem in Deutschland. Und dabei werden doch gerade die politischen Eliten in unserem Land nicht müde zu betonen, wie weit sie den unseligen Teil unserer jüngeren Vergangenheit angeblich hinter sich gelassen haben.

Wer nur noch ruhig schlafen kann, wenn er die Wirklichkeit ausblendet, der wird früher oder später mit ihr kollidieren. Die Heftigkeit der Empörung über Sarrazins Stil ist direkt proportional zur Hilflosigkeit der Eliten gegenüber den Problemen der Integration, mit deren Lösung sie überfordert sind.

Dr. Christoph Dietrich,

Berlin-Schöneberg

Probleme bei der Integration müssen klar benannt, mit korrekten Fakten unterlegt und vernünftig analysiert werden. Diesem Anspruch werden Thilo Sarrazin und Alexander Gauland nicht gerecht. Behauptungen wie „Türken und Araber seien in ihrer Mehrheit nicht integrationsfähig“, beschreiben nicht ein empirisches Problem, sondern ein rassistisches Vorurteil. Menschen können integrationsunwillig sein. Integrationsunfähigkeit als unveränderliche Eigenschaft, die zu einer Person oder gar einer Gruppe wegen ihrer Herkunft, Rasse, sozialem Status etc. gehört, gibt es jedoch nicht. Integration ist ein wechselseitiger Prozess zwischen Gesellschaft und Individuen. Kein Mensch ist grundsätzlich integrationsunfähig, zumindest nicht in einem demokratischen Rechtsstaat.

Integrationsunfähigkeit wird weder genetisch noch kulturell vererbt oder weitergegeben. Sonst könnten wir die Pisa-Studien beiseite legen und behaupten, wir müssten nicht die Schule verbessern; die Misserfolge bei den Schulabschlüssen rührten vielmehr daher, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten integrationsunfähig seien. Wir sollten die Realität nicht ausblenden.

Was Integration bedeutet, welche Probleme es dabei gibt, und wie man an Lösungen arbeiten kann, wissen u. a. kirchliche und diakonische Einrichtungen, die sich seit Jahrzehnten für Integration einsetzen. Ihre und die Erfahrungen anderer zeigen, dass es Menschen mit vielen Problemen gibt, dass es aber keine integrationsunfähigen Menschen gibt und dass es erst recht keine Menschengruppen gibt, denen die Eigenschaft „Integrationsunfähigkeit“ gleichsam als Teil ihrer nationalen oder religiösen Identität anhaftet.

Behauptungen dieser Art machen aus Problemen, die vielfältige Ursachen haben, eine unveränderbare Eigenschaft eines Menschen und entziehen sie damit der Möglichkeit, Lösungen zu finden. Sie bedienen Gefühle von Angst, Hass und Überheblichkeit und vernebeln den Verstand. Sie wollen nicht, dass sich die Dinge bessern. Sie entziehen sich der Mitverantwortung und werfen die Schuld auf einen Sündenbock. Sie lassen als einzige Lösung den Schluss zu: Die integrationsunfähigen Menschen müssen aus unserer Gesellschaft entfernt werden. Dass solcher Unsinn auch von Menschen vertreten wird, die sich den gesellschaftlichen Eliten zurechnen, ist zwar nichts Neues, macht aber die Sache nicht besser. Integration ist ein mühsamer, nicht endender Prozess. Fortschritte lassen sich aber mit Vorurteilsfreiheit, Sachkunde und der Bereitschaft, pragmatische Lösungen zu suchen, erreichen.

Hanns Thomä, Beauftragter für Migration und Integration der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Berlin-Friedrichshain

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