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Meinung: Kreuzberg ist eine Enklave des Authentischen

„Aufruhr im Kreuzberger Kiez“ vom 23. Februar 2006 Wer den Aufruhr verstehen will, muss den Blick ausweiten.

„Aufruhr im Kreuzberger Kiez“ vom 23. Februar 2006

Wer den Aufruhr verstehen will, muss den Blick ausweiten. Dieser Bezirk wurde nach dem Krieg zu einem Fluchtpunkt für Bohemiens und Individualisten, die die poetische Qualität eines Viertels höher schätzten als die urbane Organisation reibungsloser Abläufe. Es entstand eine Enklave des Authentischen. Eine fast dörflich anmutende Ruhe war gesichert durch Häuser, die sich quer stellten zur tempobegünstigenden Endlosigkeit von Straßen. Ein intaktes enges Kneipennetz fungierte als Kraftwerk für überschäumende Kommunikationen.

Die 60er Jahre brachten erweiterte Dimensionen: Der Zustrom von Ausländern vertrieb jeden Anflug von Provinzmentalität und brachte Farbe und Ferne; die Politisierung im Verlauf der antiautoritären Bewegung stiftete eine Grundstimmung der Autonomie, über die im Zweifelsfall tatkräftig gewacht wurde. In den 70ern sorgten die Grünen für das allmähliche Fallen der Barrieren zwischen Alten und Jungen, In- und Ausländern, Intellektuellen und Praktikern, Homos und Heteros. Entscheidend für das Verständnis der gegenwärtigen Rebellion: Beides, die Verlangsamung bei gleichzeitiger Integrationsfähigkeit, beförderte eine Sensibiliät für die Differenz, für einen subtilen Umgang mit dem Unterschiedenen, Abweichenden. Je mehr Berlin und die Welt ihr Tempo beschleunigten, umso mehr wuchs in Kreuzberg etwas Neues heran – ein Patriotismus, der avancierte Antworten auf die überall immer dräuender in Erscheinung tretende Frage entwickelte, wie heute eine Community menschenwürdig verwirklicht werden kann. Die besondere Zumutung der gegenwärtigen Auseinandersetzung liegt darin, dass dieses zukunftsträchtige Experiment mit Konzepten von gestern unter Beschuss genommen wird. Kräfte sind am Werk, die sich die Modernisierung eines vermeintlich in seine Zurückgebliebenheit verliebten Kreuzberg auf die Fahnen geschrieben haben. Groteskerweise sind ausgerechnet die Grünen bei diesem Retro federführend.

Eckhard Siepmann,

Berlin-Kreuzberg

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