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Lesermeinung: Ist Berlin der richtige Standort für eine Vertreibungs-Gedenkstätte?

Unsere Leser Brigitta und Hans Gelderblom sagen: die Vertriebenen brauchen die Gedenkstätte nicht. Polens Botschafter Marek Prawda meint: Berlin ist der Ort, an dem eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur entstehen kann.

„Zeichen gegen Vertreibung in Berlin“ vom 20. März

Kein Zweifel, wir brauchen eine Erinnerungskultur, die die Fakten nach Ursache und Wirkung beschreibt und die Unterschiede zwischen Opfern und Tätern nicht verwischt. Wir gehören zu den Vertriebenen, aber den Kabinettsbeschluss vom 19. März für ein „Sichtbares Zeichen gegen Flucht und Vertreibung“ lehnen wir in diesem Umfang, fokussiert auf das deutsche Unglück und isoliert angesiedelt in Berlin, als historisch unangemessen ab.

Brauchen wir dieses 30-Millionen-Euro-Zeichen zur „Daseinsvorsorge“, zur Bewältigung unserer Geschichte? Die zwölf Millionen deutschen Flüchtlinge haben sich, häufig nach harten Problemen, im Westen hervorragend integriert, sie haben gewonnen und wurden für den Westen zum Gewinn. Von den Vertriebenen wird die Vertreibung spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges überwiegend als unvermeidbar-gerechte Folge für den von Deutschland ausgegangenen Vernichtungskrieg akzeptiert. Wie kann das auch anders sein? Deshalb sollte das Topos Vertreibung nicht zu einem „Zentrum“ geschichtlicher Betrachtung werden, es muss im historischen Zusammenhang bleiben. Wen immer wir fragen: für die Flüchtlinge selbst ist das „Sichtbare Zeichen“ kein dringendes Bedürfnis, für den Bürger nicht einmal ein „Thema“. Natürlich, „Berufsvertriebene“ werden das anders sehen. Mit der jetzt formulierten zentralen „deutschen“ Lösung in Berlin ohne Vernetzung in einem größeren europäischen Projekt verpasst die Regierung auch eine wichtige Chance zur vertieften Verständigung. Was soll der kleine Mann in Polen, der für den Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden gespendet hat, dazu sagen?

Die Vertreibung kann und soll zum Thema werden, aber bitte in einem historisch angemessenen Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen Aspekten von historischer Ursache und Schuld.

Brigitta und Hans Gelderblom, Seddin

Sehr geehrte Frau Gelderblom, Sehr geehrter Herr Gelderblom,

aus meiner Sicht ist Berlin ein Ort, an dem eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur entstehen kann. Die Stadt, die zum Symbol des Zusammenwachsens von zwei Teilen des Kontinents wurde, hat vielleicht mehr Chancen als manche anderen, das gemeinsame Bild von der europäischen Geschichte zu fördern. Und dieses „Zusammenwachsen“ unserer Erinnerungen brauchen wir ja unbedingt, wenn wir es mit einem neuen europäischen Gemeinschaftsgefühl und mit der Vertiefung der Integration in der EU ernst meinen. Wenn das so ist, dann sollten historische Projekte Berlins auch unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden. Darin läge eigentlich eine gute Gelegenheit für eine Stadt, die mit ihrer Zwiespältigkeit lebt, die sich ihrer Vergangenheit sowohl in deren Glanz aber auch Elend stellen muss.

In Ihrem Brief weisen Sie auf die Unsicherheitsfaktoren hin, die mit dem Projekt „Sichtbares Zeichen gegen Flucht und Vertreibung“ verbunden sind. Sie warnen davor, das Topos „Vertreibung“ zu einem Zentrum geschichtlicher Betrachtung zu machen. Das sehe ich genauso. Für uns Polen ist das totalitäre System und der Völkermord die zentrale Erfahrung des 20. Jahrhunderts, was folglich bedeutet, dass man viele andere tragische Prozesse und Ereignisse, wie kriegsbedingte Fluchtbewegungen, Zwangsumsiedlungen und Vertreibungen, in einer unmissverständlichen Relation dazu betrachten sollte. Sie stehen am Ende einer langen Kette von Verbrechen und sind nur ein Teil einer humanitären Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, der in seinem Wesen ein Vernichtungs- und Unterwerfungskrieg war. Damit verstehe ich auch, dass die gemeinsame Erinnerungskultur – von der Sie auch schreiben und die wir heutzutage alle suchen – nicht in einem aus dieser Kette herausgerissenen Prozess zu finden ist, sondern vielmehr auf der Grundlage der gesamten totalitären Erfahrung des 20. Jahrhunderts erarbeitet werden sollte. Für eine solche Aufgabe eignete sich zum Beispiel ein im internationalen Rahmen konzipiertes Museum über Krieg und Frieden/Versöhnung viel besser. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat den Vorschlag vor einiger Zeit unterbreitet.

Problematisch ist darüber hinaus der Anspruch einer Europäisierung der „Vertreibungen“, wenn man Erfahrungen verschiedener Völker zu unterschiedlicher Zeit und in unterschiedlichen historischen Kontexten vergleicht. Das Vergleichen von Unvergleichbarem führt nämlich zu einer „falschen Universalisierung“, die dann viel mehr mit innenpolitischen Zielen als mit der „internationalen Empathie“ zu tun haben kann. Die Kriegserfahrungen von verschiedenen Völkern, die so unterschiedlich sind, lassen sich vielleicht nur dann „europäisieren“, wenn man sie als ständige Mahnung betrachtet und daraus den Mut schöpft, sich gemeinsam möglichen Katastrophen entgegenzustellen. Indem man einen antitotalitären Konsens fördert. Und indem man ständig zur Aufarbeitung aller Schattenseiten der eigenen Geschichte bereit ist.

In Ihrem einfühlsamen Brief finde ich übrigens den Ton wieder, der früher, vor allem in den 90er Jahren, sehr wichtig für unsere eigene Vergangenheitsdebatte war. Er hat die damalige selbstkritische Debatte in Polen gefördert und ihre Teilnehmer ermutigt, auch nach den eigenen Verdrängungsvarianten zu suchen und sich den Perspektiven und Sensibilitäten der Nachbarn zu öffnen. Umso weniger verstanden wir damals, dass man uns gerade zu jenem Zeitpunkt so kategorisch dazu aufrief, unsere Vergangenheit aufzuarbeiten und endlich „Abschied von unseren Tabus“ zu nehmen. Wir dachten, seit einigen Jahren gerade dabei zu sein – so intensiv wie nie zuvor. Warum wollte man in Deutschland nicht sehen, dass wir das aus eigener Initiative tun? Handelte es sich denn wirklich bei der Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen um eine Frage des Mitgefühls für die Betroffenen oder war es vielleicht eher eine politische Manifestation? Im Ergebnis hatten wir nur Kopfschütteln auf beiden Seiten. Aus der Sicht der Deutschen hafteten die „übersensiblen“ Polen an ihrem Mythos der unschuldigen Opfer und waren deshalb nicht in der Lage zu akzeptieren, dass andere ihrer Opfer gedenken. Wir Polen fühlten uns unverstanden, weil wir aus einem ganz anderen Grund empfindlich reagierten. Wir hatten gerade eine schwierige öffentliche Debatte hinter uns und wir wollten das Erreichte erhalten. Die Diskussion um das Zentrum gegen Vertreibungen hat uns von diesem Ziel entfernt.

Der letztgenannte Aspekt wäre - natürlich aus unserer spezifischen „Außensicht“ – nicht ganz unwichtig bei der Überlegung, für welche Gedenkstätten Berlin ein geeigneter Ort ist. Natürlich verstehe ich, dass das Projekt „Sichtbares Zeichen“ sich von dem ursprünglichen Konzept des Zentrums deutlich unterscheidet. Dennoch ist es nicht dieses Projekt, das hilfreich sein kann, unsere Erinnerungen in Europa miteinander zu teilen und zu vereinigen. Dafür brauchen wir ein Konzept, das sich auf die umfassende Erfahrung mit den totalitären Systemen gründet, das aber auch die Geschichte der Wiederherstellung der im Krieg zerfallenen europäischen Ordnung erzählt. Damit kann die historische Erfahrung des östlichen Teils Europas etwas mehr Berücksichtigung finden.

Die Debatte um das ursprüngliche Konzept des „Vertreibungszentrums“ hat gezeigt, dass sich die polnische Öffentlichkeit einem pauschalen Vorwurf ausgesetzt fühlte, die Polen seien die alleinigen Urheber der Tragödie von Millionen Deutschen. Dass die Polen damals selbst ein Objekt der Politik Stalins waren, wurde kaum erwähnt. Deshalb ist es heute für uns von besonderer Bedeutung, wie Polen in der Erinnerungslandschaft Berlins nun präsent sein werden. Welche Rolle wird uns in der historischen Erzählung dieser Stadt zufallen? Warum erzählen wir nicht – uns selbst und der Außenwelt – dass die 1000 Jahre der deutsch-polnischen Nachbarschaft viel mehr umfassen als die Tragödien des 20. Jahrhunderts? Warum sprechen wir so wenig darüber, dass die Berliner Mauer nicht von alleine gefallen ist, sondern dass dem politischen Umbruch von 1989 eine faszinierende Geschichte der Oppositionsbewegungen in der Region vorausging? Und dass damit die Wurzeln eines neuen europäischen Gemeinschaftsgefühls auch in Danzig, Prag oder eben Ostberlin zu suchen sind? Berlin ist für mich der richtige Ort, an dem sich Ost und West nun endlich ihre Geschichten erzählen können. In dieser Rolle erscheint diese Stadt besonders authentisch und glaubwürdig.

Mit freundlichen Grüßen

— Dr. Marek Prawda,

Botschafter der Republik Polen in Berlin

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