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Meinung: Nachts sind alle Katzen grau

„Freie Sicht / Die Schule muss vom Leben lernen“ von Dieter Lenzen vom 18. August „Freie Sicht“ heißt die Rubrik, aber irgendetwas muss dem Autor die Sicht verstellt haben.

„Freie Sicht / Die Schule muss vom Leben lernen“ von Dieter Lenzen vom 18. August

„Freie Sicht“ heißt die Rubrik, aber irgendetwas muss dem Autor die Sicht verstellt haben. Überdenken will er die Differenzierung des Unterrichts in Fächer. Die Welt teile sich nicht in Fächer.

Gewiss nicht, aber sie teilt sich auch nicht einfach ihren Betrachtern oder Beobachtern von sich aus mit. Dazu bedarf es eines je besonderen Zugangs zu ihr, einer bestimmten Sprache, einer bestimmten Sichtweise, bestimmter Kategorien. Ohne solche Kategorien bleibt die Sicht auf die Wirklichkeit versperrt, das Leben unverstanden. Eine Einheitssprache für die Welt gibt es nicht, nur verschiedene Sprachen mit den dazugehörigen verschiedenen Wirklichkeiten. Selbst den Alltag kann man nicht mit einer Sprache bewältigen. Realitätstüchtig ist nur, wer viele Sprachen spricht. Mit dem Automechaniker, dem man sein Auto zur Reparatur anvertraut, wird man ganz anders reden müssen als mit der Anna, deren Hand „so warm, so frei“ auf der Schulter liegt. Sollte man hier die Sprachspiele verwechseln, käme man in ziemliche Schwierigkeiten. Wer von einer Einheit der Wissenschaft als Abbild der Einheit der Wirklichkeit träumt, landet bei allem Möglichen, nur nicht bei der Wirklichkeit.

Lenzen ist Pädagoge. Dass gerade die Pädagogik besonders anfällig für solche Einheitsfantasien ist, zeigt der heutige Ganzheitssumpf der Erlebnis- und Ökopädagogik zur Genüge. Neu sind solche Strömungen, die die vermeintlich an der lebendigen Wirklichkeit vorbeigehenden Disziplinen ersetzen sollen, nicht. Was dabei herauskam, kann mit der Wissenschaftsgeschichte besichtigt werden: nichts Gutes. Da bleibe ich doch lieber bei den Fächern – in Wissenschaft wie Schule. Dass der Kanon nicht immer derselbe sein muss, auch nicht die Zahl der Fächer oder ihr Zuschnitt, darüber lässt sich reden, muss sogar geredet werden, aber nicht aus der Position einer Einheit des Ganzen. Das wäre das Ende von Bildung und der Anbruch der Nacht, in der alle Katzen grau sind. Nur die Beteiligten halten das für das Leben. Es ist schwer vorstellbar, dass Dieter Lenzen, der einer Eliteuniversität vorsteht, diese Konsequenz in Kauf nehmen möchte.

Hans-Dietrich Schultz,

Berlin-Kreuzberg

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