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Meinung: Sind umfangreiche Reformen in unserem Land überhaupt notwendig?

„Beschreibungspflichtig“ vom 4. Juli 2006 Jeder oft nur kurzzeitig durch Wahlerfolg zu Macht gelangte Politiker fühlt sich offenbar dazu berufen, eine Reform vom Zaun zu brechen.

„Beschreibungspflichtig“ vom 4. Juli 2006

Jeder oft nur kurzzeitig durch Wahlerfolg zu Macht gelangte Politiker fühlt sich offenbar dazu berufen, eine Reform vom Zaun zu brechen. Trotz mangelnder Reformerfahrung scheint sein Glaube unerschütterlich, er könne ein langfristig gewachsenes System (sofern es so etwas überhaupt noch gibt nach all der Reformerei) durch ein am grünen Tisch ausgedachtes und ausgehandeltes System ersetzen, welches besser sei als das alte.

Hochschulreformen (70er Jahre), Schulreformen, Rentenreform, Rechtschreibreform, Hartz IV und diverse Gesundheitsreformen beweisen im Ergebnis das Gegenteil. Keine dieser Reformen hat ein grundsätzlich besseres System als das vorangegangene bewirkt. Viele Reformen wurden im Lauf weiterer Reformmaßnahmen zurückentwickelt, oft bis in die Nähe des Ausgangszustands. Dafür haben alle Reformen viel Geld gekostet. Eklatantes Beispiel sind die wegen mangelnder Voraussicht unerwarteten Mehrkosten von Hartz IV. Und jetzt die Gesundheitsreform?

Bei Reformentscheidungen im Parlament sind die sachlichen Fragestellungen wegen Ihres Umfangs vom Parlamentarier in der Regel schwer zu übersehen und treten gegenüber den politischen Ambitionen der Akteure oft weit in den Hintergrund.

Was ist das reformerische Ergebnis? Ein Großteil der ursprünglichen Probleme existiert nach wie vor oder ist durch neue Probleme ersetzt. Das beweist die Serie von Gesundheitsreformen, wo doch eine Reform für lange Zeit genügen und wirken sollte. Reale und langfristig wirksame Reformerfolge sind verhältnismäßig selten.

Das Bedürfnis federführender Politiker, sich mit umfassenden Reformversuchen zu profilieren, muss endlich zu Gunsten kleiner, überschaubarer und im Detail wirksamer gesetzlicher Änderungen zurückgestellt werden. Auch die Parlamentarier hätten dann mehr Gelegenheit, wirklich zu erfassen und zu beurteilen, worüber sie bei einer Gesetzesänderung abstimmen sollen.

Die Devise muss also endlich heißen: "Evolution statt Revolution."

Bernhard Lehmann, Berlin-Tempelhof

Sehr geehrter Herr Lehmann,

Sie erklären zu Recht, dass „Reformen“, die am grünen Tisch ausgedacht und vom Zaun gebrochen werden, langfristig wenig bewirken und viel kosten. Aber folgt daraus, dass sich die Parlamentarier bloß auf Trippelschritte konkreter Gesetze beschränken sollen, weil sie die komplexen Sachverhalte nicht durchschauen oder gar mit ihren politischen Ambitionen zuschütten?

Der Reformwahn, der seit einem Vierteljahrhundert reife Industrieländer und auch Deutschland gepackt hat, ist sicher beklagenswert. In erster Linie jedoch haben bürgerliche Zirkel und Wirtschaftsexperten seit einem Vierteljahrhundert einen marktradikalen, wirtschaftsliberalen Feldzug gegen den Sozialstaat geführt. Dem haben die politischen Entscheidungsträger zu wenig widerstanden.

Das Ergebnis ist beklagenswert: Erstens der selbsterzeugte Zeitdruck, der in nächtlichen Sitzungen handwerklich mangelhafte Resultate hervorbringt, die fortwährende Nachbesserungen erzwingen. Zweitens die Verflechtung plausibler Lösungswege mit politischen Optionen und dem Blick auf die Machtbalance. In einer großen Koalition drittens die tendenzielle Ausschaltung des Parlaments durch die Parteichefs, während Vetospieler aus den Bundesländern die Machtzentren direkt beeinflussen.

Viertens die Neigung der Regierungen, sich weniger vor den Wählerinnen und Wählern zu rechtfertigen, als viel mehr vor Fachkommissionen, Expertenkreisen, vor den Wünschen transnationaler Unternehmen oder globaler Finanzmärkte, die sich als 5. Gewalt in der Demokratie aufspielen. Sechstens die Verbreitung von Fehldiagnosen etwa eines beispiellosen Globalisierungsdrucks, dramatischer demografischer Veränderungen oder des Arbeitsmarkts als Schlüsselgröße für Wachstum und Beschäftigung. Siebtens das normative Aufladen politischer Lösungsvorschläge. Während die Bevölkerung den Zusammenhang von Gerechtigkeit und Gleichheit ziemlich eng sieht, fordern die Parteispitzen, das Volk solle sich von der Verteilungsgerechtigkeit verabschieden. Da die Talente und Anstrengungen der Individuen unterschiedlich sind, gebühre der Leistungs- und Tauschgerechtigkeit ein Vorrang vor der Bedarfsgerechtigkeit und der Solidarität.

Solche Defizite der Diagnose, zustimmungsfähiger normativer Überzeugungen und politischer Umsetzung haben Reformen zu einem „Unwort“ werden lassen. Reine Veränderungen, ohne dass etwas Besseres aus ihnen hervorgeht und ohne dass diejenigen eine höhere Lebensqualität gewinnen, um deretwillen die Veränderungen angestrebt werden, verdienen den Namen Reform nicht, erst recht nicht, wenn sie als „Jahrhundertwerke“ und „Zeitenwenden“ angekündigt werden.

Trotzdem sind strukturelle Reformen unverzichtbar, wenn sich in den Köpfen und Herzen der Menschen etwas verändert hat, so dass die gesellschaftlichen Institutionen auf die Lebensentwürfe der Menschen nicht mehr passen. Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus hat eine politische Rekonstruktion der Gesellschaft dringend werden lassen, die Forderung der Frauen auf Gleichstellung und Autonomie verlangt eine radikale Neugestaltung der Arbeitsverhältnisse, das gewachsene Gespür für den Schutz der natürlichen Umwelt nötigt dazu, den wirtschaftlichen Erfolg anders als bisher zu definieren. Die Erosion der erwerbswirtschaftlichen Solidarität ist ohne eine erweiterte Finanzierungsbasis nicht aufzuhalten. In der Natur mag „Evolution“ gelten, die Gesellschaft bedarf einer normativen Gestaltung.

Mit freundlichen Grüßen

— Professor Friedhelm Hengsbach SJ.,

Leiter des Oswald-von-Nell-Breuning-Instituts

für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik

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