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Meinung: Tut Berlin zu wenig für den Schutz von Kindern?

Zum Interview mit Jugendamtsleiter Thomas Harkenthal vom 11. Januar Die leider weit verbreitete Ansicht, die bestehende Rechtslage sei zum Schutz von Kindern und Jugendlichen nicht ausreichend, ist schlichtweg falsch.

Zum Interview mit Jugendamtsleiter Thomas Harkenthal vom 11. Januar

Die leider weit verbreitete Ansicht, die bestehende Rechtslage sei zum Schutz von Kindern und Jugendlichen nicht ausreichend, ist schlichtweg falsch. Tatsächlich haben einige Jugendämter ihre hoheitlichen Aufgaben zum Schutz von Kindern jahrelang vernachlässigt. Laut Rechtslage ist der Sachverhalt eindeutig: Das Jugendamt hat nicht nur die Legitimation, sondern vielmehr die gesetzliche Pflicht, vernachlässigten Kindern sofort beizustehen.

Das Problem liegt nicht, wie häufig berichtet wird, in der Mitwirkung der Eltern und der Freiwilligkeit der Hilfen! Der Gesetzgeber spricht überhaupt nicht von Freiwilligkeit. Richtig ist, dass der Gesetzgeber Familien, die bei der Pflege und Erziehung ihrer Kinder Unterstützung benötigen, einen Rechtsanspruch auf Hilfe eingeräumt hat. Diese Familienhilfen sowie ähnliche ambulante (aufsuchende) Hilfen sind sehr erfolgreich. Familien, die beispielsweise Unterstützung bei der Gestaltung der Tagesstruktur, bei der Pflege und Erziehung ihrer Kinder sowie bei der Arbeitsplatzsuche oder auch einer Suchtproblematik durch die Familienhilfen erhalten, schaffen es in der Regel, gute Lebensbedingungen für ihre Kinder zu gestalten. Fakt ist, dass die Finanzierung dieser ambulanten Familienhilfen in Berlin in den letzten drei Jahren um mehr als 40 Prozent reduziert wurde. Nicht weil die Familien sie nicht mehr in Anspruch genommen hätten, sondern weil das Land Berlin in diesem Bereich Geld gespart hat. Das Land Berlin hat sich damit gegen den präventiven Schutz seiner Kinder entschieden. Es wäre genauer zu untersuchen, bei wie vielen der Familien, aus denen die Polizei in letzter Zeit vernachlässigte Kinder holen musste, ambulante Hilfen für Familien im Vorfeld durch das Jugendamt reduziert bzw. ganz eingespart wurden!

Der Skandal besteht darin, dass den betreffenden Familien so lange nicht geholfen wird, bis die Kinder mit der Polizei herausgeholt werden müssen! Bis dahin haben die Kinder häufig grausame Erfahrungen machen müssen, die sie ihr ganzes weiteres Leben begleiten werden.

Prof. Dr. Regina Rätz-Heinisch, Alice-Salomon-Fachhochschule, Berlin-Hellersdorf

Sehr geehrte Frau Rätz-Heinisch,

der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Vernachlässigung und Verwahrlosung ist eine der wichtigsten Aufgaben des Staates. Denn auch wenn sich der verfassungsmäßige Grundsatz bewährt, dass Eltern am besten für ihre Kinder sorgen, so gibt es doch zu viele schreckliche Fälle, in denen Vater und Mutter nicht das Kindeswohl gewährleisten.

Ich stimme Ihnen zu: Die Rechtslage ist ausreichend. Hinsichtlich der Finanzausstattung ist Berlin trotz der Kürzungen auf Augenhöhe mit vergleichbaren Großstädten wie zum Beispiel Hamburg. Auf Hilfen zur Erziehung haben die Kinder und Jugendlichen einen Rechtsanspruch. Deswegen werden wir alle Ansprüche auf Hilfen zur Erziehung erfüllen.

Bei aller nachzuvollziehenden Betroffenheit über Fälle von Kindesvernachlässigung müssen wir sehen, worum es eigentlich geht. Unsere Gesellschaft hat viele, die mit Kindern und Jugendlichen täglich zu tun haben: Kitas, Schulen, Jugendeinrichtungen, Ärzte und Polizei, aber auch Familie, Freunde, Verwandte und Nachbarn. In allen Fällen des letzten Jahres hat es vorab Signale von Vernachlässigung und Verwahrlosung gegeben. Das Problem ist, dass man auf diese Signale nicht rasch, koordiniert und entschieden reagiert hat.

Das ist nicht nur ein Berliner Problem. Zu diesem Schluss sind auch die Jugendminister/innen aller Bundesländer gekommen, die insgesamt sieben Defizite und Schwächen des Hilfesystems identifiziert haben: die manchmal zu späte Intervention, fehlende interdisziplinär abgestimmte Verfahren zur Identifizierung von Risiken, Grenzen der professionellen Kompetenz, fehlendes Fehlermanagement, nicht vorhandene Vernetzungen zwischen den vielen Akteuren, nicht ausreichende frühzeitige präventive Hilfen und kein ausreichendes Bild über den Lebensalltag.

Berlin hat bereits im November des letzten Jahres ein Konzept für ein Netzwerk Kinderschutz vorlegt, das die Schwachpunkte im Verfahren, der Kooperation und der Qualifizierung aufgreift, das die Früherkennung verbessert, neue Modelle der Frühförderung einführt, mit einer zentralen Hotline und festen Ansprechpartnern rasche Hilfen ermöglicht und nicht zuletzt durch den Ausbau der Untersuchungen des öffentlichen Gesundheitsdienstes in den Kindertagesstätten bessere Erkenntnisse der gesundheitlichen Lage ermöglicht. Eingebettet in das und vernetzt mit dem bestehenden sehr guten Hilfeangebot von spezialisierten freien Trägern, wie zum Beispiel Kinderschutzbund, Kind im Zentrum, Kinderschutzzentrum, Wildwasser, wird dem Kinder- und Jugendnotdienst, der dafür noch personell verstärkt wird, eine noch wichtigere Rolle zukommen. Insgesamt werden 1,1 Millionen Euro aufgewandt, um ein Netzwerk zu schaffen, das von der vorgeburtlichen Hilfe bis zur laufenden Betreuung von Familien Hilfeangebote bereithält, um Eltern in Überforderungssituation beizustehen und so dem Hauptübel für Kindesvernachlässigung und Misshandlung zu begegnen.

Mit freundlichen Grüßen

— Prof. Dr. E. Jürgen Zöllner (SPD),

Senator für Bildung, Wissenschaft und Forschung

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