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Meinung: Wie frei ist ein Abgeordneter bei geheimen Wahlen?

Zu: „Wer hat uns verraten?“ vom 20.

Zu: „Wer hat uns verraten?“ vom 20. März und

„Simonis: Hinterhältiger Dolchstoß“ vom 19. März 2005

Wie heisst es so schön: Wer mit dem Finger auf andere zeigt, sollte bedenken, dass dabei drei Finger auf ihn selbst gerichtet sind. So geht es auch dem schleswig-holsteinischen Landtagsabgeordneten und kommissarischen Finanzminister Ralf Stegner: In seinem offenen Brief brandmarkt er einen Abweichler aus seiner Fraktion und offenbart dabei einen Abgrund an Demokratieverachtung, der schaudern lässt. Wer die in freier und geheimer Wahl getroffene Entscheidung eines Abgeordneten, der nach dem Grundgesetz nur seinem Gewissen verpflichtet ist, als „ehrlose Schweinerei“ und „schäbigen und charakterlosen Verrat“ bezeichnet und dem Abgeordneten schlicht das Recht abspricht, „den Willen von SPD, Grünen und SSW in einer Wahlkabine“ umzukehren, der hat in einem demokratischen Parlament nichts zu suchen. Stegner sollte sein Mandat unverzüglich zurückgeben.

Andreas Heinzgen, Berlin-Charlottenburg

Sehr geehrter Herr Heinzgen,

zu den Vorgängen in Kiel fragen Sie mit Recht danach, ob man mit einem so genannten „Abweichler“ so umgehen kann, wie dies zur Zeit geschieht. Der oder die Abgeordnete, die Frau Simonis nicht wieder zur Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein wählen wollte, hat nichts anderes getan, als seinem Gewissen zu folgen. Das Wesen der parlamentarischen Demokratie besteht im Prinzip des freien Abgeordneten, der – wie es unser Grundgesetz sagt – Vertreter des ganzen Volkes und nur seinem Gewissen verantwortlich ist. Gerade deshalb ist beispielsweise jede Form eines Fraktionszwanges verfassungswidrig. Die Abgeordneten sind zwar Mitglieder einer Partei und damit auch einer Fraktion. Keine Partei- oder Fraktionsführung ist jedoch jemals berechtigt, ihre Mitglieder entgegen deren Gewissen zu irgendeinem, von der Partei oder Fraktion gewünschten Abstimmungsverhalten zu zwingen. Würde man Derartiges zulassen, so gäbe es kein freies Mandat mehr, es gäbe nur noch das imperative Mandat, das man zur Genüge aus totalitären Systemen kennt. Gerade deshalb hat sich unsere Verfassung so klar und unabweisbar für das freie Mandat entschieden.

Mit diesen verfassungsrechtlichen Grundsätzen sind auch alle Maßnahmen unvereinbar, die im Falle eines abweichenden Abstimmungsverhaltens eines Abgeordneten nach Sanktionen rufen oder von Abgeordneten verlangen, ihr eigenes Abstimmungsverhalten zu offenbaren. Freies Mandat heißt auch geheime Wahl. Nur die Geheimheit der Wahl schützt den Abgeordneten vor verfassungswidrigem Druck aus Partei oder Fraktion. Die moderne parlamentarische Demokratie basiert auf dem Prinzip der parteienstaatlichen Demokratie einerseits und dem freien Abgeordnetenmandat andererseits. Zwischen diesen beiden Prinzipien können natürlich im Einzelfall Spannungslagen auftreten. Dies hat auch das Bundesverfassungsgericht verschiedentlich nicht nur gesehen, sondern auch anerkannt.

Die politischen Parteien und die Fraktionen als Organisationsform der politischen Parteien im Parlament sind unverzichtbar, um einen funktionsfähigen parlamentarischen Betrieb zu gewährleisten. Dies fordert natürlich auch vom einzelnen Abgeordneten ein gewisses Maß an Rücksichtnahme auf die Interessen seiner Partei oder seiner Fraktion. Dies umso mehr deshalb, als der parlamentarische Betrieb heute längst auf ein hohes Maß an Spezialisierung und damit auch Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Abgeordneten angewiesen ist.

Dies offenbart sich beispielsweise in der Zuweisung und Mitgliedschaft von Abgeordneten in den Parlamentsausschüssen, die grundsätzlich von den Fraktionen beschickt werden. Dies alles darf jedoch nie das freie Mandat der Abgeordneten in Frage stellen. Selbst wenn der einzelne Abgeordnete zu einem gewissen Maß an Fraktionsdisziplin verpflichtet werden kann, darf solche Fraktionsdisziplin doch nie zum Zwang werden. Immer dann, wenn ein Abgeordneter sich ganz persönlich in seinem politischen Verhalten vor eine Gewissensfrage gestellt sieht, entscheidet er ganz allein darüber, wie er seinem Gewissen folgen will. Keine Partei oder Fraktion darf gegenüber solchen Gewissensentscheidungen auf Fraktionsdisziplin oder Ähnlichem bestehen. Auch dies hat das Bundesverfassungsgericht in aller Klarheit deutlich gemacht.

Alle diejenigen, die heute in Kiel oder sonstwo jene Abgeordnete oder jenen Abgeordneten beschimpfen, zur Offenbarung seines abweichenden Stimmverhaltens auffordern oder gar nach Sanktionen rufen, haben das Wesen der parlamentarischen Demokratie und des freien Mandats nicht nur missverstanden, sondern sie treten es in Wahrheit mit Füßen. Alle, die heute sich so verhalten, müssen sich fragen lassen, wie es um ihr eigenes Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie und zum freien Abgeordnetenmandat steht.

Mit freundlichen Grüßen

Verfassungsrechtler Professor Dr. Rupert Scholz (CDU) war 1981 bis 1988 Justizsenator in Berlin.

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