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Alles "Wutbürger"? Unser Leser hat Pegida und Stuttgart 21 miteinander verglichen.

© dpa - Patrick Pleul

Leser über Protestkultur: Gegen Stuttgart 21 oder für Pegida - Hauptsache Wutbürger

Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Protesten gegen den Bau von Stuttgart 21 und der islamfeindlichen Pegida-Bewegung? Unser Leser Amiran Gabunia zumindest ist davon überzeugt. Und wie sehen Sie das?

Es ist nicht lange her, dass die vermeintliche Volksbewegung Pegida quer durch die ganze Republik geisterte und mit ihren bundesweiten Nachahmern – Legida, Bärgida, Kegida usw. – immer wieder für Furore sorgte. Wir schreiben den März 2015, inzwischen kann man also über die glorreiche 2014er Protestaktion der missverstandenen Wutbürger ruhig in Vergangenheit sprechen. Zumindest deuten alle Zeichen – innere Zerstrittenheit, Spaltung der Organisatoren, künstlich hochgeredete Teilnehmerzahl auf den Demos – auf ein ähnliches Schicksal hin, wie es der Protestbewegung gegen Stuttgart 21 beschieden war.

Dazu kommt noch die endgültige Diskreditierung durch die Leitmedien, die sich von Anfang an ohnehin sehr kritisch zu der Bewegung positioniert hatten. Was von diesem umstrittenen sozialen Gebilde übrig bleibt, ist eine ganze Menge Erkenntnis sowohl über die Vergleichbarkeit derartiger Protestaktionen als auch über die Motivation. Hier stellt sich die Frage, ob das Empfinden eines gesellschaftlichen Stillstands als mögliche Ursache herangezogen werden kann.

Seit der ersten Kundgebung wird viel über Pegida geschrieben, viel kritisiert, gelobt und gerätselt. Es scheint aber immer noch kein Konsens darüber zu herrschen, warum diese anfangs winzige Protestaktion innerhalb von ein paar Wochen zu einem bedrohlichen Flächenbrand anwuchs und in ebenso kurzer Zeit inzwischen nur noch an das Schwanzwedeln eines sterbenden Hundes erinnert. Gerne möchten die Organisatoren und geistigen Urheber des Widerstands die Protestdemos als eine nachhaltige, langfristig angesetzte soziale Bewegung darstellen. Aber aus der Struktur-, Standhalt- und Identifikationslosigkeit ihrer Teilnehmer heraus ergibt sich lediglich die Determination einer Protestaktion.

Als Verbraucher wissen wir zu gut, dass eine Aktion in einem Geschäft – sei es ein Sonderangebot, der Saisonschlussverkauf oder die Happy-Hour in einem Restaurant – in der Regel für einen begrenzten Zeitraum gilt. Gleiches gilt für Pegida. Es ist eine Protestaktion, die beispielsweise von der Komplexität, der persönlichen Betroffenheit, von den Mobilisierungs- und Organisationsformen der 68er oder der Frauenbewegung meilenweit entfernt ist.

Was Pegida von der Protestaktion Stuttgart 21 unterscheidet, sind die intoleranten Grundsätze

Fakt ist aber, dass in Deutschland solche „Flashmob“-artigen Protestaktionen in den letzten Jahren immer häufiger aufflammen und zum Gegenstand medialer und politischer Diskurse werden. Der Protest gegen Stuttgart 21 ist eine davon, die trotz programmatischer und gewisser qualitativer Unterschiede einige Gemeinsamkeiten mit Pegida aufweist. So breiteten sich nämlich beide Aktionen anfangs über Kundgebungen – symbolisch aufgeladen als „Montagsdemonstrationen“ bezeichnet – blitzartig aus. Fehlende demokratische Legitimation, politische Verdrossenheit und Geringschätzung seitens der Politik nennen Vertreter beider Protestaktionen neben den Hauptinhalten als weitere Gründe für ihren regen Zulauf.

Beide setzen sich zu großen Teilen aus einem breiten Kreis des vermögenden Bildungsbürgertums zusammen und nach einer anfänglichen Aufbruchsstimmung geht beiden Aktionen ohne Verwirklichung der anvisierten Ziele die Kraft aus. Was aber Pegida von der Protestaktion Stuttgart 21 unterscheidet, sind die intoleranten Grundsätze bzw. die fremdenfeindlichen Ressentiments, aus denen die negative Bewertung dieser Protestaktion hierzulande resultiert. Die Angst vor der Islamisierung des Abendlandes wird von den Pegida-Anhängern als Hauptbeweggrund nach außen artikuliert.

Sich selbst begreifen sie dabei als patriotische Europäer gegen diese Islamisierung und versuchen mit Abgrenzungsparolen und der Berufung auf den angeblichen eigenen kulturellen Geltungsbereich, sich in der breiten Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen. Im Vergleich zu Pegida richtet sich die Protestaktion gegen Stuttgart 21 als ziviler Ungehorsam gegen das kostspielige Bauvorhaben des Stuttgarter Tiefbahnhofs. Aber sind dies in der Tat die einzigen wahren Motive, die von den Protestierenden nach außen kommuniziert werden? Vielleicht ist da was anderes, was in den Medien, in Expertenkreisen und in parteiinternen Debatten gänzlich übersehen wird.

Das persönliche Bedürfnis nach der Selbstbehauptung

Folgt man den Denkansätzen dieses Beitrags, ist die Angst vor der Islamisierung nicht die Hauptmotivation und das bindende Element der Pegidademonstranten, genauso wenig wie das Verhindern vom milliardenteuren Bauprojekt für die Baugegner von Stuttgart 21. Dies offenbart sich unter anderem in der Betrachtung widersprüchlicher Beweggründe von einzelnen Demonstranten. Während einige ihre Solidarität und aktive Beteiligung mit Angst vor der vermeintlichen Islamisierung begründen, versuchen andere ihre persönlichen Beweggründe – angebliche soziale Abstiegsängste, allgemeine Unzufriedenheit mit der Politik und dem Zustand der Gesellschaft – mit dem Hauptmotiv der jeweiligen Aktion zu verbinden.

Dass „Migranten ihnen den Job wegnehmen“ würden, wird ausgerechnet von jenen Protestierenden behauptet, die der vermögenden berufstätigen Mittelschicht entstammen und bisher mit „Fremden“ sowohl beruflich wie auch privat kaum in Kontakt getreten sind. Auch die Demos gegen Stuttgart 21 betrachteten viele Anhänger als vielversprechende soziale Protestplattform bzw. als Möglichkeit für die eigene Selbstbehauptung. Die diversen Forderungen, persönlichen Interessen, abweichenden Beweggründe und Absichten treten aber alle nach außen als eine Einheit auf.

Die Demonstranten bemühen sich somit um eine Identifizierung mit den jeweiligen öffentlich kommunizierten Protestbeweggründen. In diesem Bemühen um Identifizierung verbirgt sich jedoch ein starkes Bedürfnis nach eigener Selbstbehauptung. Auch wenn sich viele Beteiligte, Nachzügler und stille Sympathisanten in den Hauptzielen und Forderungen der jeweiligen Protestaktion nicht unmittelbar wiederfinden können, greifen sie diese als Medium für ihr eigenes „Ego-Involvement“ auf.

Auch die Demos gegen Stuttgart 21 betrachteten viele Anhänger als soziale Protestplattform

Aus dieser Perspektive auf die Selbstbehauptung als individuelle Motivation ergibt sich eine plausible Geistesallianz zwischen Vertretern beider Protestaktionen. So wie bei Pegida die Verteidigung des „abendländischen“ Weltbilds als auch im Falle vom Protest gegen Stuttgart 21 mit dem Boykott des Bauvorhabens ist das jeweilige nach außen kommunizierte Hauptmotiv kein primäres Grundelement dieser Protestaktionen. Vielmehr bietet es den besagten Zielgruppen eine Projektionsfläche, um sich in Auflehnung gegen veränderungsbedürftige Missstände zur Geltung zu bringen und aus ihrem routinierten und scheinbar ermüdenden Alltag auszubrechen.

Dass sich Protestierende in ihrem starken Verlangen nach der Behauptung des eigenen Selbst politisch positionieren, ihre allgemeine Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen und Anspruch auf gesellschaftliche Veränderungen erheben, steht unter Umständen mit ihrer Wahrnehmung eines gesellschaftlichen Stillstands in Verbindung. Es ist eben dieser Wille bzw. das Bedürfnis nach Selbstpositionierung, das plausibel die Frage beantwortet, warum sich eine pensionierte Hamburger Lehrerin, ein ostfriesischer Kunstsammler, ein Berliner Stadtverwalter oder ein emeritierter Professor aus Passau unter dem Gesichtspunkt der Überregionalisierung lokaler Angelegenheiten das ferne Stuttgarter Bauprojekt zu eigen machen. Sie alle stehen stellvertretend für jene ältere Zielgruppe mit einem gewissem Vermögen, Bildungshintergrund und Freizeit, welche die Mehrheit der beteiligten Protestierenden ausmacht.

Bei ihr macht sich das Gefühl der vermeintlichen latenten Monotonisierung der Gesellschaft und das damit einhergehende Ausbleiben sozialer Bewegungen besonders stark bemerkbar. Sie spürt einen Bedarf nach gesellschaftlichen Veränderungen. Anscheinend bezieht sich die ironische Fremdzuschreibung „Wutbürger“ auf die Art und Weise, wie diese Zielgruppe ihre Forderungen mit der eigenen Beharrlichkeit zur Geltung bringt. Viele von ihnen definieren sich nicht nur als Hauptakteure der rauschenden 68er-Bewegung oder als Zeitzeugen turbulenter politischer und sozialer Veränderungen der 70er- und 80er-Jahre, sondern sie sind auch der festen Überzeugung, durch ihren persönlichen Einsatz und ihr aktives Engagement die Gesellschaft maßgebend mitgestaltet zu haben.

"Wutbürger" wollen sich Gehör verschaffen

Die fast bedingungslose Bereitschaft der „Wutbürger“ zur Beteiligung an diesen neuerlich entstandenen Scheinbewegungen scheint eine folgerichtige Reaktion als Artikulationsmittel für Selbstbehauptung und Bestrebungen, den eigenen politischen Überzeugungen Gehör zu verschaffen, da die vergangenen 20 Jahre ihnen aufgrund ihrer eigenen epochalen Erfahrungen als vergleichsweise starker sozialer Stillstand erscheinen. Dies gilt nicht nur für die in Westdeutschland sozialisierten Protestierenden gegen Stuttgart 21 sondern auch für viele Dresdner Pegida-Anhänger. Zwar können sie sich nicht aufgrund der deutschen Teilung auf die im Westen vollzogenen sozialen Bewegungen zurückbesinnen, aber dafür sehen sie sich in der Tradition der Montagsdemonstrationen von 1989, als man sich getrieben von eigenem bis dahin unterdrückten Selbstbehauptungsdrang dem Aufruf „Wir sind das Volk!“ angeschlossen und sich damit gegen das DDR-Regime aufgelehnt hatte. Die daraus resultierenden Wende, die im geopolitischen Interessen des Westens stand und angesichts des maroden Sowjetsystems unausweichlich schien, begreifen die Akteure dieser Volksbewegung ausschließlich als Folge eigenen persönlichen Einsatzes und politischer Forderungen.

Die Unbenannte Jahrhundertwende

"Pegida"-Demonstration in Dresden am Montagabend.
"Pegida"-Demonstration in Dresden am Montagabend gegen eine angebliche Islamisierung des Abendlandes.

© Reuters

Richtet man den Blick auf die vergangenen 100 Jahre, so fällt sogleich auf, dass die Zeit im westeuropäischen soziokulturellen Geltungsbereich in historisch definierten Abschnitten eingeordnet bzw. determiniert ist. Die jeweilige Determination – sei es die Belle Epoque, die goldenen Zwanziger, die 68er, 80er oder 90er – wurde durch die kollektive Wahrnehmung der westlichen Zivilisation an bestimmte historische, kulturelle und politische Ereignisse geknüpft. Durch diese Determination wurden die jeweiligen historischen Abschnitte mit bestimmten Wertzuschreibungen belegt – sei es ein bestimmtes Lebensgefühl, Aufbruchsstimmung, Depressionen oder Krisen – und in die Gegenwart transportiert. Dabei waren diese epochalen Determinationen nicht unbedingt Produkt retroperspektiv verfasster hoch stilisierender Romane oder nachträglicher medialer, allgemeinpolitischer Umdeutungen, sondern sie existierten bereits zeitgleich als Deutungsmuster innerhalb des jeweiligen determinierten Zeitraums und standen somit für bestimmte musikalische, künstlerische, soziale und politische Strömungen. Die Punk-Ära ist eben eines dieser epochalen Deutungsmuster, das zeitgleich mit ihrer Entstehung Mitte der 70er Jahre zum Innbegriff eines ganz bestimmten Lebensgefühls wurde. Erzeugt wurde es durch die Generation desillusionierter Jugendlicher mit ihrem Slogan „No Future“.

Das Markenzeichen der Generation Y: ihr Unpolitischsein und ihre Konzentration auf sich selbst

Nun stellt sich doch die Frage, welche epochale Determination gibt es nach den 90er-Jahren in Deutschland? Es gibt weder eine Determination der 2000er noch der 2010er, die den Nachfolgegenerationen das Lebensgefühl des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends vermitteln könnte – die Aufbruchstimmung oder die großflächigen sozialen Reaktionen auf Krisen und Missstände. Auch in der zeitgenössischen Kunst und Literatur hat sich keine Bezeichnung für diesen zeitlichen Abschnitt herausgebildet, kein Zeitgeist vermittelnder Name.

Anscheinend hängt die epochale Namenlosigkeit der letzten Jahrhundertwende mit der Art und Weise zusammen, wie sich die heutige junge Generation der sogenannten „Millennials“ oder „Generation Y“ in Deutschland artikuliert und mit welchen politischen Ambitionen sie auf die Krisen oder auf selbst definierte soziale Probleme reagiert. Das Markenzeichen der Generation Y ist eben ihr Unpolitischsein, ihre Konzentration auf sich selbst und nicht auf politische Forderungen zum sozialen Wandel.

Die nötigen gesellschaftlichen Veränderungen begreifen Vertreter dieser Generation in ihrem ökonomischen, beruflichen, innovation- und konsumorientierten Handeln. Die Konsequenz dieser allgemeingesellschaftlichen Haltung sind beispielsweise die Entwicklung und selbstverständliche Anwendung etlicher Smartphone-Apps, von Projekten wie Opensource oder Shared Economy, die zweifelsohne als Verbesserung der Lebensbedingungen und Anpassung an die gegenwärtigen gesellschaftlichen Anforderungen aufgefasst werden können. Diese Verschiebung von der radikalen Selbstbehauptung der physischen Präsenz auf den Straßen hin zu digitalen Artikulationsformen – Blogs, Twitter, Facebook usw. – lässt aber bei vielen älteren Bürgern eine gefühlte Monotonisierung der Gesellschaft aufkommen. So ist beispielsweise die mediale und politische Resonanz von einer nach auf die Straßen getragenen Protestaktionen angesichts der Möglichkeit zur Echtzeitberichterstattung durch prägende Demobilder viel eindrucksvoller als in der Blogosphäre, auf Twitter oder Facebook entfachte Lifestyle-Protestwellen, die aufgrund ihrer Konzentration im virtuellen Raum den gängigen Berichterstattungsformen im Fernsehen und in den Printmedien voraus sind und somit für die breite Öffentlichkeit im Hintergrund vollzogen werden.

Der Sonderfall Deutschland

Die Wirtschaftskrise hat viele Länder fest im Griff.
Die Wirtschaftskrise hat viele Länder fest im Griff.

© dapd

Die anhaltende Wirtschaftskrise, die vor einigen Jahren einzelne EU-Staaten unterschiedlich stark traf, hat im EU-Vergleich unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklungsstände aufgezeigt – sowohl im ökonomischen Sinne als auch mit Blick auf die Reaktion der jeweiligen Bevölkerung. Während in Deutschland und im nordeuropäischen Raum trotz beträchtlicher Einschnitte großflächige soziale Bewegungen – bis auf einige Lifestyle-Protestaktionen und eine „virtuelle Rebellion“ – nennenswerte politische Konsequenzen ausblieben, sind in einigen südeuropäischen Ländern Massendemonstrationen im Stil der 60er- und 70er-Jahre zum Bestandteil des alltäglichen Lebens geworden. Dass ausgerechnet als linksextrem geltende Parteien wie Syriza in Griechenland oder die als am stärksten gehandelte politische Kraft Podemos in Spanien die Regierungsverantwortung übernehmen, zeigt die Schlagkräftigkeit dieser sozialen Bewegungen, die ihren Anfang auf den Straßen von Athen und Madrid genommen haben – Sinnbild für den Protest im physischen Raum.

Sie geben auch Aufschluss über den aktuellen Entwicklungsstand der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme in diesen Ländern, die man unter dem Gesichtspunkt der Belastbarkeit und Komplexität des jeweiligen Systems im sozialwissenschaftlichen Diskurs im Vergleich zu Deutschland als eher rückständig einstufen würde. In der Funktionalität des gegenwärtigen gesellschaftlichen Systems in Deutschland heraus lassen sich solche unerwartet umfassenden, sichtbaren Veränderungen weder erzeugen noch werden sie zugelassen. Dies löst bei älteren Protestanhängern von Pegida und Stuttgart 21 ein Ohnmachtgefühl und ein Empfinden gesellschaftlichen Stillstands aus. Daher richtet sich ihre Wut nicht etwa gegen die Islamisierung oder gegen das Bauvorhaben Stuttgart 21, sondern gegen das System, in dem sie im Vergleich zu früheren Zeiten keine ersichtlichen Veränderungen mehr herbeiführen und sich folglich nicht behaupten können. Verdeutlichen lässt sich die Ausdifferenzierung des politischen Systems in Deutschland anhand des Beispiels der Umsetzung der Agenda 2010, die als Inbegriff für institutionelle Allmacht steht.

Die Ausarbeitung und die latente Umsetzung der Agenda 2010 indiziert systemtheoretisch betrachtet die Weiterentwicklung (also die Ausdifferenzierung) der Politik als gesellschaftliches System. Das heißt, dass bei der Ausarbeitung von derartig umfassenden Umstrukturierungsvorhaben darin selbstverständlich auch Mechanismen und Strategien zur Milderung und gar zur völligen Eindämmung möglicher bürgerlicher Gegenwehr mit „eingebaut“ wurden. Sie werden so ausgeklügelt in der Öffentlichkeit kommuniziert und im einkalkuliertem Zeitraum umgesetzt, dass der betroffene Bürger weder die nötige Kraft und Mobilisierung zum Widerstand aufbringen, geschweige denn eine großflächige Protestaktion anstoßen kann. Trotz kritischer Auseinandersetzungen zu diesbezüglichen Reformen in den Medien und der Politik ist es kaum möglich als Durchschnittsbürger die soziale Dimension derartig umfassender Reformen in Gänze abzuschätzen noch sich dazu politisch zu positionieren.

Parteien, welche nach den Wahlen mit ihren Koalitionspartnern die Regierungsverantwortung übernehmen, berufen sich bei der Umsetzung solcher gesellschaftlichen Umstrukturierungen auf ihre durch Wahlen zugeschriebene Legitimation und stellen bis zum Ende ihrer Regierungszeit deren Grenzen nicht mehr in Frage.

Ihre Wut richtet sich gegen das System

Für diese Zielgruppe, zu der auch die eingangs erwähnte pensionierte Hamburger Lehrerin oder der ostfriesische Kunstsammler zählen, sind die Spielräume für die Selbstartikulation mit althergebrachten Mitteln viel enger geworden. Wahrscheinlich erklärt sich die hohe Demo-Beteiligung dieser Zielgruppe eben dadurch, dass sie aufgrund ihrer epochalen Erfahrungen den heutigen sozialen Stillstand als ungleich stärker wahrnehmen als jene, die diese generationsübergreifenden Erfahrungen nicht besitzen. Wehmütig blicken sie auf die Zeit zurück, als man in diversen Bürgerinitiativen, universitären Diskussionen und allgemein in der Öffentlichkeit das Gefühl hatte, gehört zu werden, als man sich zu eigenen Herzensangelegenheiten politisch positionieren konnte und als bestimmte Veränderungen auch in absehbarer Zeit vollzogen werden konnten.

Heute ist die Gesellschaft ungleich komplexer und undurchschaubarer geworden. Auch Prozesse politischer Entscheidungsfindung haben sich ausdifferenziert und die Ökonomisierung über alle Gesellschaftsbereiche hinweg ist enorm vorangeschritten. Vor dem Hintergrund dieser soziopolitischen und ökonomischen Komplexität bleibt kaum noch Platz für Bürgerbegehren und die damit verbundene Selbstbehauptung. Verstärkend kommt hinzu, dass man dieses Gefühl der Selbstbehauptung erst dann erfährt, wenn das positive Resultat des eigenen Einsatzes und der Selbstbehauptung ersichtlich wird. Andernfalls ist die Folge Wut und Ohnmachtgefühl.

Das Selbstbehauptungsmuster der Generation Y

Der Bahnhof Stuttgart 21 wird gebaut und Pegida fällt auseinander. Die herbe Niederlage beider Protestaktionen suggeriert, dass die Wutbürger eine für Deutschland nicht zeitgemäße Protestform der Selbstartikulation angewandt haben. In einer derartig komplexen Gesellschaft wie der heutigen deutschen können Veränderungen nur noch nach dem Selbstbehauptungsmuster der Generation Y vollzogen werden, deren „heimliche Revolutionäre“ ökonomische, soziale und persönliche Elemente mit ihrem unpolitischen Lifestyle in Einklang zu bringen in der Lage sind.

Dennoch lassen sich sowohl der Protest gegen Stuttgart 21 als auch Pegida trotz ihrer fragwürdigen Grundsätze als gesellschaftlich konstruktive soziale Erscheinungen definieren. In erster Linie werden dadurch nämlich wichtige innengesellschaftliche Kontroversen angeregt, indem neue, nützliche öffentliche Diskussionen und Gegenpositionen herausgebildet werden. Eine von unzähligen Reaktionen auf Pegida ist die prominente Gegenwehr wie durch Herbert Grönemeyer, Jan-Josef Liefers oder zahlreiche Gegendemonstrierenden. Zudem wurde das Thema Pegida zum Diskussionsgegenstand unzähliger Talkshows, die eine stärkere Sensibilisierung der Problematik zu Tage gefördert haben. Mit einem Wort stellen sie ein unverzichtbares Medium dar, um unsere monoton wirkende Gesellschaft wachzurütteln und dem scheinbaren Stillstand entgegenzuwirken.

Amiran Gabunia

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