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Nun auch mit Wowereit - am Anfang der Kampagne hatte die SPD noch auf Plakate ohne Fotos des Regierenden Bürgermeisters gesetzt.

© dpa

Leserkommentar: Kinderthemen im Wahlkampf

Für ein Wahlplakat der SPD lässt sich Klaus Wowereit mit einem vergnügt spielenden Kind ablichten. Unserer Leserin Aleksandra Pawliczek wäre es lieber, er würde sich um die dünne Personaldecke der Kitas kümmern.

Es ist wieder Wahlkampf und wie alle vier Jahre lassen sich Politiker, allen voran der Regierende Bürgermeister, in altbekannter Manier auf sechs Quadratmeter großen Plakaten mit Kindern ablichten, die ihnen fröhlich und begeistert an die Nase fassen. Und das unter dem Schlagwort: Berlin verstehen. Ist dies nun ein Wunsch oder eine Tatsachenfeststellung?

Ich muss gestehen, dass ich in meiner Naivität die Doppelzüngigkeit nicht verstehe, die dahinter steckt. Denn dass Kinder wichtig sind, für unsere politische und wirtschaftliche Zukunft, auch für den Fortbestand der Gattung natürlich, stellt wohl keiner in Abrede, nicht diejenigen, die selbst welche haben und wohl auch nicht die Kinderlosen, sofern sie sich mit dieser Frage beschäftigen. Offensichtlich auch nicht die Politiker, sonst würden sie uns nicht im Vierjahresrhythmus daran erinnern, dass Bildung und Erziehung eine zentrale Rolle im politischen Handeln bedeuten sollten. Aber genau da sehe ich eine klaffende – nennen wir es – Ungenauigkeit. Sobald die Wahlplakate aus der Stadtrealität verschwinden, ist es mit dem Handeln nicht weit her. Wie kann man erwarten, dass wir die pittoresken Abbildungen einer kinderfreundlichen Utopie auch nur sechs Wochen lang glauben können, wo doch unsere täglichen Erfahrungen der 52 Wochen eines jeden Jahres dagegen halten?

Ich will nicht in Abrede stellen, dass in Bildung investiert wird, auf Landesebene ebenso wie auf Bundesebene. Punktuell und meistens unzureichend werden Gelder zur Verfügung gestellt, die mal mehr, mal weniger sinnvoll genutzt werden können. Dass dies nicht ausreicht, weiß jeder, der durch unser Bildungssystem hindurchgegangen ist. Aber dies ist ein anderes Thema, auf das ich hier nicht eingehen will. Mein Anliegen betrifft die ganz kleinen Mitglieder unserer Gesellschaft, die sich derart fröhlich und ahnungslos für den Wahlkampf engagieren (lassen). Die, aus denen in einer absehbaren und sehr kurzen Zeit Jugendliche werden, über die niemand mehr Kontrolle ausüben kann. Denn auch darüber werden wir regelmäßig informiert: Über Rütli- und Heinrich-Mann-Schulen, deren überforderter Lehrkörper öffentlich über Gewalt und Gewaltbereitschaft, Respektlosigkeit und soziale Abnormalität klagt. Soziale Abnormalität als Folge sozialer Verwahrlosung. Man zeigt sofort auf die unzulänglichen Eltern, die unzureichende Zuwendung und das Versagen der Erzieher. Genau das möchte ich erörtern.

Das Erziehungssystem kann natürlich nicht die gesamte Erziehung eines Kindes übernehmen, die Eltern stehen selbstverständlich in der Pflicht. Die Hälfte (oder weniger) der Zeit, die ihre Kinder im wachen Zustand verbringen, müssen – und wollen – sie ihnen widmen. Die andere Hälfte müssen – und manchmal wollen – sie anderen überlassen, aus dem einfachen Grund, dass sie arbeiten. Arbeit ist oft genug keine Frage der Wahl oder des Wollens, sondern zunehmend eine Frage des Müssens, in Zeiten befristeter Arbeitsverträge, gestrichener Projektstellen und notwendiger, jedoch nicht bezahlter Tätigkeiten. Ich spreche nicht nur von Selbstverwirklichung und Emanzipation, die ihren berechtigten Tribut fordern, sondern schlicht von Notwendigkeit. Aber auch dies ist ein Fass, das ich an dieser Stelle nicht aufmachen will. Es geht lediglich darum, dass verschiedene Gründe und Erfordernisse es unumgänglich machen, Kinder, selbst sehr kleine Kinder, in die Obhut professioneller Erzieher zu geben. Und dass diese ihr Bestes tun, will ich auch nicht leugnen. Das Beste ist relativ und nicht immer gut, aber aus eigener Erfahrung kann ich die Grenzen der Belastbarkeit erkennen, die ein Tag mit kleinen Kindern mit sich bringt. Mit vielen kleinen Kindern, die alle Zuwendung und Aufmerksamkeit brauchen und manchmal auch einfordern. Einem einzigen Erzieher stehen nicht selten zehn kleine Menschen gegenüber, und ganz gleich, wie er sich anstrengt und zerteilt, einige davon werden im Wettbewerb um Interesse und Sympathie auf der Strecke bleiben.

Meine Tochter geht seit drei Wochen in die Krippe, wo sie zusammen mit vier weiteren Winzlingen „eingewöhnt“ wird. Die einzige Betreuerin, die als Vollkraft eingestellt ist, bekommt sporadisch Hilfe von einer Teilzeitkraft, die eine Hälfte ihrer Arbeitszeit einer anderen Gruppe von Kindern widmen muss, in der ebenfalls einige Neuankömmlinge ihre ersten Tage und Wochen verbringen. Die sechs größeren Kinder, sozusagen die Veteranen, bleiben weitgehend sich selbst überlassen, während die Neuen nacheinander auf den Schoß genommen, auf eine Spielmatte oder auf den Wickeltisch gelegt werden. Und während die Erzieherin eine Windel wechselt, klettert meine Tochter die Hochbetttreppe hoch, die hinunterzuklettern sie noch nicht in der Lage ist, und wird möglicherweise hinunterfallen, noch bevor die Anziehprozedur nach dem Wickeln beendet ist. Dann geht es hinaus in den Garten und über den Gartenzaun hinweg kann ich mein Kind sehen, wie es eingeschüchtert und einsam auf einem Fleck verharrt, während es darauf wartet, auf die Schaukel oder die Wippe hochgehoben zu werden – denn allein kann sie es noch nicht. Nichts geschieht, sie wird auch heute nicht schaukeln. Zwischen den vielen kleinen Kindern mit ihren gleichermaßen berechtigten Anliegen wird sie lernen müssen, sich durchzusetzen. Oder eben nicht.

Das Wickeln, Tragen, Schuhe und Regenhosen Anziehen, das Füttern und gelegentliche Trösten kostet Zeit. Jedes der elf Kleinen kann auf weniger als fünf Minuten Aufmerksamkeit pro Stunde rechnen, sofern sie gerecht verteilt wird – und die Teilzeitkraft für etwas Entlastung sorgt. Sonst bleibt der einsame Kampf, die Hälfte der wachen Lebenszeit lang. Von „Förderung“ oder „Betreuung“ kann kaum die Rede sein; „Aufsicht“ trifft es eher. Die Erzieher sind nicht dazu da, zu erziehen, sondern bestenfalls, das Schlimmste zu verhindern und einzugreifen, wenn etwas passiert.

Werden also die Weichen der künftigen Persönlichkeit in den ersten drei Lebensjahren des Kindes gelegt, wie uns erfahrene Pädagogen versichern, sind die Erfahrungen eines Krippenkindes weitgehend auf seine eigene Phantasie und Initiative beschränkt. Wie gesagt, eine sehr einsame Angelegenheit. Und nach einem langen Arbeitstag geht die Erzieherin erschöpft nach Hause, ausgelaugt und oft genug desinteressiert an ihrem Beitrag zur Erziehung künftiger Generationen. Vielleicht wird sie nach einigen Jahren ihren Beruf wechseln, vielleicht wird sie eine gesegnete Abgestumpftheit erreichen, die den Arbeitsalltag erleichtert und automatisiert.

Die Quintessenz dieser langen Ausführungen ist denkbar einfach: Es fehlt an Personal (und ich spreche nicht von gut ausgebildetem Personal, denn über die Ausbildung habe ich noch nicht ein Wort verloren). Nicht nur, weil immer weniger Menschen bereit sind, die Position eines Erziehers zu wählen – ein durchaus ernst zu nehmendes Problem in Zeiten eines neuen Babybooms; sondern auch, weil der kuriose Personalschlüssel öffentlicher Kindertagesstätten in Berlin anderthalb Stellen für die Betreuung von elf Kindern vorsieht, und kein bisschen mehr. Beide Phänomene dürften einander bedingen.

Deshalb frage ich mich, wie lange der Fotograf warten musste, bis das Kind, das dem Regierenden Bürgermeister an die Nase fasst, zu lachen begann, und dann frage ich mich, ob es noch lachte, als das Foto auf dem Display der Kamera für zweckdienlich erklärt wurde und man es allein mit seiner Puppe in eine Ecke setzte. Wird es in vier oder acht Jahren immer noch ein geeignetes Modell für den nächsten Wahlkampf sein, oder ein sozial verwahrlostes, gewaltbereites Mitglied einer Problemschule?

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Aleksandra Pawliczek

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