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Die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast, steckt einen Ladestecker in ihr energiefreundliches Auto.

© dpa

Liberalismus: Grüne Freiheitskämpfer

Vor einer Woche warnte Jan Roß an dieser Stelle vor dem "Tugendstaat" und eine "Zwangsbeglückung" durch die Grünen. Doch sein FDP-Marktliberalismus hat auf die Herausforderungen der Zukunft keine Antwort. Eine Entgegnung.

Im Namen der Freiheit haben Menschen schon die seltsamsten Dinge getan: Kriege begonnen, Stadtwerke abgeschafft, FDP gewählt, um nur einige zu nennen. In der vergangenen Ausgabe der ZEIT hat Jan Roß im Namen der Freiheit vor einer Bedrohung derselben durch einen grünen »Tugendstaat« gewarnt, der seine Bürger umerziehen oder gar zu ökologisch vorbildlichem Verhalten zwingen wolle: Ökostrom beziehen, Biogemüse essen, im Schneckentempo Auto fahren, wenn überhaupt.

Ein »Tugendstaat«? Schon der Begriff ist seltsam: Tugend setzt Handlungsfreiheit begrifflich voraus; wer zwischen Richtig und Falsch nicht wählen kann, weil staatliche Zwangsmittel ihm diese Wahl nicht lassen, der kann sich nicht tugendhaft verhalten. Gemeint sind offenbar ökologisch motivierte Übergriffe möglicher grüner Regierungen gegenüber missliebigen Minderheiten, sagen wir: Porschefahrern.

Zwei vermeintlich besonders fatale Beispiele grüner Regulierungswut nennt Jan Roß: das Vorhaben der Landesminister für Verbraucherschutz, Restaurantbetreiber zur Offenlegung der Ergebnisse von Hygienekontrollen zu zwingen. Und den Vorschlag, den klassischen Wachstumsbegriff der Wirtschaftslehre durch ein anderes Maß zu ergänzen, das Werte wie Lebensqualität oder Naturverbrauch einbezieht. Beides sind keine politischen Vorhaben der Grünen, aber grüne Politiker tragen sie mit oder werben dafür.

Wessen Freiheit schränkt die sogenannte Restaurant-Ampel eigentlich ein? Offensichtlich vor allem die des Wirts, dem nicht länger freigestellt sein soll, Hygienekontrollen als Privatangelegenheit zu behandeln. Diesem Freiheitsverlust steht allerdings ein Freiheitsgewinn der Gäste gegenüber, die, wenn sie es möchten, den Besuch von Schmuddelküchen nun leichter vermeiden können. Nicht der regulierende Obrigkeitsstaat, sondern die Marktmacht des aufgeklärten Verbrauchers soll also die Beachtung hygienischer Mindeststandards durchsetzen. Man kann das Anliegen für unwichtig oder den Aufwand für übertrieben halten. Worin aber die Freiheitsgefährdung bestehen soll, ist schwer zu erkennen.

Noch rätselhafter ist das zweite Beispiel, die Kritik am alternativen Wachstumsbegriff. Ökonomen, Soziologen und andere Befindlichkeitsforscher fühlen dem Land permanent den Puls und produzieren dabei einen Datenstrom, aus dem die Politik nach Belieben schöpft. Das Wirtschaftswachstum ist nur ein Gesichtspunkt unter vielen, genau wie ein alternativer Wachstumsbegriff es wäre. Wessen Freiheit wird bedroht, wenn Politiker um zusätzliche Informationen bitten, weil ihnen bestimmte Fragen unterbelichtet scheinen?

Damit könnte man es bewenden lassen. Wenn die zwei wichtigsten Beispiele vermeintlicher Freiheitsgefährdungen bei genauerer Betrachtung keine sind, kann die Gefahr insgesamt so groß nicht sein. Allerdings wäre es möglich, dass es bessere Gründe für die These vom »Tugendstaat« gibt. Es ist ja richtig, dass Grüne immer wieder staatliche Eingriffe fordern, wo sie ihren politischen Gegnern überflüssig oder schädlich erscheinen. Und sicher ist es richtig, staatlichen Eingriffen prima facie zu misstrauen.

Nur ist es auch so, dass sich die Welt verändert und darum bisweilen staatliche Steuerung erfordert, wo es vordem auch ohne ging. Nehmen wir ein überschaubares Beispiel: den Straßenverkehr in der Stuttgarter Innenstadt. Altbauquartiere, enge Straßen – und wachsender Wohlstand, der sich in einer immer größeren Zahl von Familienkutschen und Zweitwagen ausdrückt. Was geschieht? Der Platz wird knapp. Autos auf Parkplatzsuche verstopfen die Straßen, während lückenlose Blechkolonnen am Straßenrand die Fußgänger zu Gefangenen machen, indem sie jeden Durchgang versperren. In dieser Lage waren es die Grünen, die als Erste erkannten, dass Parkraum zu einem knappen und nicht beliebig vermehrbaren öffentlichen Gut geworden war. Am Ende retteten Parkscheinautomaten und Anwohnerregelungen die Bewegungsfreiheit der Bürger, während Konservative und Freidemokraten die vermeintliche grüne Regulierungswut geißelten.

Das Beispiel lässt sich verallgemeinern. Die salvatorische Floskel des Urliberalen John Locke, es müsse bei der Aufteilung der Erde »für andere genug und gleich Gutes« übrig bleiben, passt in die Welt des 17. Jahrhunderts mit ihren 700 Millionen Bewohnern. Inzwischen teilen sich sieben Milliarden Menschen die Erde, bald werden wir neun und womöglich sogar zwölf Milliarden sein. »Genug und gleich Gutes« wird von nun an immer seltener übrig sein, egal, ob es um Parkraum in Innenstädten geht, um unberührte Natur oder um die Fähigkeit der Atmosphäre, ohne Schaden für das Klima Kohlendioxid aufzunehmen.

Wie verteidigt man unter den Bedingungen wachsender Knappheit die Freiheit der Schwächeren? Der Marktliberalismus der FDP, für den Jan Roß wirbt, hat auf diese Herausforderung keine Antwort. Die Grünen suchen sie wenigstens.

Quelle: ZEIT-Online

Frank Drieschner

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