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Meinung: LOCKERUNGSÜBUNGEN ZUM WAHLKAMPF Der Salto Mortale

Vor ein paar Tagen unterhielt ich mich mit einem amerikanischen Professor. Er sagte: „Ihr in Deutschland habt keinen Berlusconi, keinen Haider, keinen Le Pen, keinen Fortuyn – wieso eigentlich?

Vor ein paar Tagen unterhielt ich mich mit einem amerikanischen Professor. Er sagte: „Ihr in Deutschland habt keinen Berlusconi, keinen Haider, keinen Le Pen, keinen Fortuyn – wieso eigentlich?" Ich sagte: „Wir haben ein paar Miniausgaben davon, aber die sind unwichtig. Im Grunde heißt unser Haider Gerhard Schröder." Der Professor war erstaunt. „Aber Schröder ist doch gar nicht so rechts, oder?" Ich sagte: „Das ist eben Deutschland."

Vor ein paar Tagen hat sich Schröder demonstrativ mit Martin Walser getroffen. Anschließend hat der gleiche Schröder die klassisch sozialdemokratische Platte aufgelegt und in der Original-Tonlage von Bebel auf einem Gewerkschaftskongress gesprochen. Selma Lagerlöff, Johannes R. Becher, Ignatius von Loyola – Schröder würde sich von jedem eine Rede schreiben lassen, sich mit jedem treffen, wenn er glaubt, dass es ihm nützt, außer mit Oskar Lafontaine. Jenseits des Rechtspopulismus und des Linkspopulismus verkörpert Schröder die dritte, die deutsche Variante: den Populismus ohne Eigenschaften. Immer noch besser als Haider, oder?

Die letzten Jahrzehnte der deutschen Politik verliefen folgendermaßen. Wer irgendetwas sagte oder schrieb, was rassistisch oder antisemitisch war oder nur in dieser Richtung missverstanden werden konnte, der war anschließend politisch tot oder galt als gefährlicher Irrer. Während in anderen europäischen Ländern rechtspopulistische Parteien aufblühten, sind in Deutschland derartige Versuche nach kurzer Zeit gescheitert. In deutschen Zeitungen und Politikerreden wird gleichwohl seit Jahrzehnten auch beim geringsten Anlass vor dem kurz bevorstehenden Vierten Reich gewarnt. Das beliebteste Zitat der deutschen Literaturgeschichte stammt von Brecht und lautet: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch." Wer in Deutschland das sagt, was in „Le Monde" oder im „Guardian" und in anderen liberalen Zeitungen der Welt steht und was Kofi Annan sagt und was im Grunde jedes Kind erkennen kann, dass nämlich Israel die Palästinenser unterdrückt und eine lausige Regierung hat, der steht im Verdacht, ein Nazi zu sein, eine Art Kofi-Annan-Nazi. Das ist lästig, aber auch irgendwie gut. Antifaschismus ist wie Geld oder wie Urlaub oder wie Sex, lieber ein bisschen zu viel davon als gar nichts.

Zur Zeit zieht Deutschland wieder einmal sein altbekanntes Selbstvergewisserungs-Ritual durch. Ungefähr alle zwei bis drei Jahre brauchen wir das: eine rituelle Teufelsaustreibung, die jedes Mal mit dem Brecht-Zitat beginnt und mit der Erkenntnis endet, dass wir halt doch ein relativ zivilisiertes Land sind und unsere Lektion gelernt haben.

Und Walser? Martin Walser hat ein Buch geschrieben, vor dem es einen graust, wenn man sich die Zitate anschaut, die jetzt überall zu lesen sind. Aber nur, weil es so schlecht ist, missglückter Humor. Nicht wegen des bisschen Antisemitismus. Wer sagt denn, dass Antisemiten keine großen Künstler sein können? Wagner! Céline! Knut Hamsun! Antisemiten können, ähnlich wie Mörder, Trickdiebe oder Kinderschänder, großartige Künstler sein, aber niemals Humoristen, weil Hass und Humor nicht zusammenpassen.

Die „FAZ" gehörte nach Walsers skandalumwitterter Paulskirchen-Rede zu seinen Verteidigern. Ein Tor, wer Walsers Rede damals für antisemitisch gehalten hätte. Am Mittwoch aber, am gleichen Tag, an dem der Herausgeber Frank Schirrmacher Walser die geistige Freundschaft kündigte, erschien in der „FAZ" ein Leitartikel mit dem folgenden Satz: „Nach den heutigen Maßstäben war Walsers Paulskirchenrede gewiss rechtspopulistisch, wenn nicht antisemitisch." Nach dem heutigen Maßstäben – gewiss. Der Mann ist in Ungnade gefallen. Nun wird die Vergangenheit der Zeitung umgeschrieben, wie bei Orwell, wie in „1984". . . nein, anders: wie bei Gerhard Schröder. Wie schön ist unser Vaterland, und doch so seltsam.

Hier rezensieren Roger Boyes, Korrespondent der „Times“, und Harald Martenstein bis zum 22. September immer sonntags den Wahlkampf.

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