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Meinung: LOCKERUNGSÜBUNGEN ZUM WAHLKAMPF Schröders Waterloo

Dortmund hat zwei gute Seiten. Die erste ist, dass einem alle vier Jahre, kurz vor den Sommerferien, bei Aldi ein Politiker entgegenkommt.

Dortmund hat zwei gute Seiten. Die erste ist, dass einem alle vier Jahre, kurz vor den Sommerferien, bei Aldi ein Politiker entgegenkommt. Dein Kind beschwert sich und versucht, an eine Ketchup-Flasche zu kommen, aber der Mann sieht nett aus und er scheint ernsthaft interessiert zu sein als er fragt: „Wie geht es Ihnen?“

„Gut“, antwortest du und ziehst dein Kind von den Eiern weg, „ganz gut“. Wenn hinter der Schulter des Politikers eine Kamera hervorschaut (was meistens der Fall ist), geht die Konversation weiter. „Arbeitet Ihr Mann?“

„Seit 1996 nicht mehr“, sagst du schnell, bevor der Toningenieur das Mikrofon auszuschalten kann. Der Politiker drückt die Augen für einen Moment zu, als sei er von einer Biene gestochen worden. „Wir werden es schon hinkriegen“, sagt er, genau wie schon 1998, und geht den Supermarktgang herunter, vor ihm der Bodyguard und hinter ihm sein Pressereferent, der Kameramann, der Tontechniker und der Aldi-Filialleiter. Die zweite gute Sache an Dortmund ist das Bier.

NRW ist das wahre Schlachtfeld. Vergessen Sie die Saar, Eckernförde und Wiesbaden. Jedes Volksfest muss an der Ruhr ausgefochten werden, als ob es sich um das Waterloo der SPD handele; Clement ist Marschall Blücher, bereit, Schröder zu retten, den Duke of Wellington. Zumindest 42 Prozent müssen in NRW geholt werden, wenn die SPD eine Chance haben will, die nächste Bundesregierung zu stellen. Aber die alte SPD-Maschine hat den Kontakt zum Wähler verloren. Keine andere Region hat sich im Westen so schnell verändert, aber die Politiker haben so getan, als sei die Sozialstruktur die Gleiche geblieben. Das Land wurde immer von einem Heerführer, Rau und nun Clement, geführt, dessen königliche Autorität weitergegeben wurde an die lokalen Häuptlinge; jeder Bürgermeister in NRW tut so, als sei er der Ministerpräsident. Wenn sich die SPD-Elite trifft, ähnelt das der Loya Dschirga in Kabul, auch wenn SPDler heute weniger Bart tragen.

Diese Kluft zwischen dem wirklichen und dem politischen NRW könnte die nächste Wahl entscheiden. Wer Kneipen in ganz Deutschland besucht, hört die standardisierten Sat1-Bildzeitungs-Themen: Stoiber gegen Schröder, Zuwanderung, Möllemann, Euro. In Dortmunder Kneipen sind sie da weiter: Sie sprechen über die SPD nach Schröder. Schröder ist kein Held an der Ruhr. Sollte die CDU stärkste Partei werden und eine große Koalition bilden, wer wird dann Vizekanzler? Clement – sagen sie in Dortmund. Oder wenn Stoiber lieber auf Schwarz-Gelb setzt, wer gewinnt? Möllemann. In jedem Fall kann NRW von einer Niederlage Schröders profitieren.

Franz Müntefering würde solch loses Geschwätz nicht gutheißen, aber er weiß, dass es an der Ruhr keinen Schröder-Enthusiasmus gibt. Babcock hin oder her, Schröder sieht deplatziert aus. Wie die junge Garde der NRW-Politiker kann er eine Kohlestadt nicht von einer Stahlstadt unterscheiden. Bei einer Morgenlage sagte Müntefering dem Kanzler vor kurzem, die SPD-Korruptionsskandale seien eingedämmt. Es gäbe keine Anzeichen dafür, dass der Rest Deutschlands von Wuppertal und Köln beeinflusst sei. Müntefering ist ein General, und Generäle müssen Erfolge hoch- und Fehler runterreden. Aber was dem Kanzleramt wie ein Erfolg erscheint, ist ein Symptom der tiefen Malaise an der Ruhr. Die alten Muster der SPD-Kontrolle lösen sich auf, Müntefering kann nicht länger mit reflexhafter Stammesloyalität rechnen. Nur Fußballmannschaften verdienen solche Unterstützung, und sogar die verlieren. Ich würde mich nicht wundern, wenn ein großer Teil der SPD-Stimmen an der Ruhr ein Zuhause bei Möllemanns kleiner Partei finden würde.

Die SPD in NRW hat Macht, aber keinen Einfluss, und das führt letztlich zu Stagnation, Korruption und Revolte. Napoleon verlangte von seinen Befehlshabern, Glück zu haben. General Müntefering braucht alles Glück, das er kriegen kann.

Der Autor ist Korrespondent der „Times“.

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