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Meinung: LOCKERUNGSÜBUNGEN ZUM WAHLKAMPFDabeisein ist alles

Von Harald Martenstein Meine Stimme ist schon im Kasten. In diesem Jahr habe ich zum ersten Mal Briefwahl ausprobiert.

Von Harald Martenstein

Meine Stimme ist schon im Kasten. In diesem Jahr habe ich zum ersten Mal Briefwahl ausprobiert. Das ist ziemlich fad. Zwar kann man alle möglichen Sachen tun, die im Wahllokal streng verboten sind. Man kann sich mit dem Kind über die drolligen n der Kleinparteien lustig machen. Man kann sein Kreuz öffentlich hinmalen, unter den Augen und Protesten der übrigen Familienmitglieder, man kann sie „Das kannst Du doch nicht tun!“ oder „Das meinst Du doch nicht ernst!“ oder „Ich ziehe aus!“ rufen lassen. Man kann auf die Namen von gewissen Parteien spucken, und auf die Namen anderer stundenlang Milch und Honig träufeln.

Aber nichts ist so gut wie der Gang zum Wahllokal. Der hat so was angenehm Rituelles. Man fühlt sich, als laufe man in einem Film der „Bundeszentrale für politische Bildung“ herum. Obwohl unser Wahllokal dieses Mal im Hinterzimmer eines Restaurants untergebracht ist, was ich halbseiden finde.

Das Wählen hat nicht so viel Spaß gebracht wie sonst. Man wählt eine Partei, ohne richtige Begeisterung, und, ehrlich gesagt, es könnte genauso gut eine andere sein. Die meisten Leute, die ich kenne, halten zwei, drei oder vier Parteien für erwägenswert, ich auch. Das ist neu. Auch die Parteien gehen diesmal lockerer an die Sache heran. Früher haben sie immer so getan, als ob der Sieg der jeweils anderen den Untergang Deutschlands bedeute, und das hat unsereins mental mitgerissen. Vor allem die CDU war darin Meister. Ist Ihnen klar, verehrte Mitwähler, dass wir gerade den ersten Wahlkampf erlebten, in dem die CDU nicht die Platte „Freiheit oder Sozialismus“ auflegte?

Mein Freund R. war bis 1990 DDR-Bürger und ist sein Leben lang nicht zur Wahl gegangen. Er hat nichts gegen die parlamentarische Demokratie, im Gegenteil, er zieht sie allen anderen Herrschaftsformen vor und würde sie wohl verteidigen, wäre sie gefährdet. Er interessiert sich für Politik. Aber er sagt, dass die Unterschiede zwischen den Parteien nicht riesig seien, und dass es momentan keine politische Frage gäbe, die ihn leidenschaftlich genug bewege, um dafür sonntags zur besten Schlafenszeit das Haus zu verlassen. Das Personal der wichtigen Parteien sei ähnlich kompetent oder inkompetent, so dass es nicht wirklich darauf ankäme, wer regiert. Schließlich täten die Regierenden nach der Wahl sowieso etwas anderes, als sie vorher sagen. Auf das, was wirklich passiert, hätten die Wähler keinen nennenswerten Einfluss. Womöglich nicht einmal die Politiker.

R. verhält sich wie ein Gast, der zum Kellner sagt: „Ich weiß ja, dass es bei Ihnen schmeckt. Bringen Sie mir also irgendetwas. Das Tagesgericht.“ Ich finde diese Haltung legitim und philosophisch. Aber ich habe mich ans Wählen gewöhnt, ich mag es, von Zeit zu Zeit am Sonntagmorgen feierlich vor verratzten Klassenzimmern oder staubigen Gerichtssälen Schlange zu stehen und mir dabei zu überlegen, was die anderen wohl wählen. Man erkennt es ja fast immer. Aber das Hauptargument fürs Wählen sind die Fernsehabende, mit den Hochrechnungen und den Diskussionen. Das Fernsehen bereitet viel mehr Freude, wenn man selber mitgewählt hat. Auf der Pferderennbahn setze ich auch immer ein paar Euro, weil die Rennen dann spannender sind. Obwohl es im Grunde nur für den Jockey und den Züchter wichtig ist, welches Pferd gewinnt.

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