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Meinung: Machen wir’s wie die Ratten

Roger Boyes, The Times

Wir, lautet so nicht das Klischee?, tanzen auf dem Vulkan. Lange habe ich die Berliner nicht mehr so gut gestimmt erlebt, nicht einmal während der künstlich erregten, ja hysterischen Zeit der Fußball-Weltmeisterschaft. Raus an den Wannsee, den Schlachtensee, den Müggelsee: Wenn es den Berlinern gut geht, suchen sie das Wasser wie Kamele in der Oase. Die Menschen lümmeln sich vor ihren Büros, Männer zeigen im Tiergarten ihre blasse Brust, und weil sie sich hinter Sonnenbrillen verstecken, halten sie sich für attraktiv. Röcke schrumpfen. So viel Fleisch. Man fühlt sich wie in einem Film von Leni Riefenstahls buckliger Schwester, jener, die Hitler nicht mochte.

Und tief in unseren Herzen wissen wir, dass das ganz falsch ist. Wir profitieren von einem Klimawandel, dem der Frühling bereits zum Opfer gefallen ist, der Überschwemmungen verursacht, Flüsse austrocknen lässt, Hungersnöte und Kriege auslöst. Wir werden dunkelhäutiger und kaufen uns Hängematten, während überall die Ernte vertrocknet und fruchtbares Land verloren geht.

Und dann passiert etwas direkt vor der eigenen Haustür, und plötzlich merkt man, dass man die beiden Welten nicht weiter trennen kann, dass wir selber inmitten eines erschreckenden Prozesses stecken. Dass ich nach einem Abendessen in Charlottenburg in einem Hof eine Ratte sah und in der Schlüterstraße Füchse um eine Mülltonne herumschlichen, dass ich in der Trabener Straße auf Wildschweine treffe – alles nicht neu. Aber eine Ratte, die vor meinen Füßen stehen bleibt und mich anstarrt, als wollte sie sagen: „Die Zukunft gehört mir, Du dummer fetter Mensch“?

In Berlin kommen auf jeden Menschen zwei Ratten, aber irgendwie denkt man, dass die alle am Landwehrkanal und am Kotti leben. Ein Freund von mir aus Bielefeld berichtet mir, dass die Müllautos dort mit Waagen ausgestattet sind. Sind die Mülltüten zu schwer, muss man sie behalten. Also spülen die Bielefelder ihre Essensreste im Klo runter – Fast Food für die Ratten. Etwas Ähnliches passiert in Berlin: Überflüssige Lebensmittel, von Supermärkten am Abend vor die Tür gestellt oder von Döner Buden aussortiert, verbunden mit dem milden Winter, züchten eine Armee von Ratten.

Ratten sind furchteinflößend, nicht weil sie Menschen angreifen – das tun sie eher selten –, oder weil sie atavistische Erinnerungen an die Pest hervorrufen. Sondern weil sie uns vor Augen führen, wie wir leben. Wir denken, dass wir Teil der höchsten Zivilisation sind, die die Welt je gekannt hat. Und plötzlich tanzen die verdammten Ratten um uns herum und erinnern uns, dass wir stets nur 50 Meter vom Gulli entfernt sind. Wir verstecken den Dreck, statt ihn zu entfernen – das macht uns womöglich schwächer als die Ratten.

Ratten (und Küchenschaben), heißt es immer, würden einen Nuklearkrieg überleben, Menschen nicht. Es sieht so aus, als ob die Ratten auch die wahren Überlebenden des Klimawandels sind. Je höher die Temperatur, je mehr Wasser wir verschwenden und Müll produzieren, desto mehr profitieren die Ratten. Ein Rattenpaar kann pro Jahr 15 000 Nachkommen produzieren. Ratten haben 20 mal am Tag Sex, und ein Männchen kann sich in sechs Stunden mit bis zu 20 Rättinnen vereinigen. Nicht einmal Rolf Eden in seinen besten Jahren war dazu in der Lage. Eine weibliche Ratte ist 21 Tage lang schwanger und bringt acht bis zehn Kleine auf die Welt.

Wir haben also ein Problem. Einige Kulturen lösen es, indem sie Ratten jagen und aufessen, und manchmal glaube ich, dass McDonalds da schon ganz weit vorn liegt. Meistens ignorieren wir sie, bis sie sich zeigen. Wenn die Ratten aber die Überlebenden des Klimawandels sind und wir nicht, dann sollten wir von ihnen lernen. Nein, ich plädiere nicht für Sex 20 mal am Tag, obwohl das die logische Konsequenz von Ursula von der Leyens Politik ist. Aber wir wissen, dass Ratten länger leben, wenn sie weniger Nahrung kriegen. Davon können wir lernen: Wir wissen, dass Ratten am besten in der Kühle der Nacht funktionieren – unsere menschliche, zivilisierte Welt sollte vielleicht auch nachtaktiv werden. Ratten passen sich schnell an. Sie finden Wege, mit weniger Wasser auszukommen. Und sie essen unsere Essensreste. Wie viel Nahrung schmeißen wir einfach weg?

Ratten sind intelligent. Sie beobachten die Menschen genau und passen ihre Instinkte an. Wir haben mehr Hirn, nutzen es aber nicht angesichts des Wetterwandels. Unser Überleben hängt davon ab, dass wir verstehen, wie unterschiedliche Teile der Welt zusammenspielen und dass wir unser Verhalten dem anpassen. Dabei geht es um mehr, als vom Porsche aufs Fahrrad umzusteigen. Das bedeutet zu lernen, mit weniger auszukommen, hier in Berlin.

Übersetzt von Moritz Schuller.

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