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Meinung: Matrosenstille und billige Wurst

Wenn Michail Borisowitsch Chodorkowski heute früh seine karge Zelle im Moskauer Gefängnis „Matrosenstille“ verlässt, erwartet ihn ein hartes Urteil. In allen Anklagepunkten hat Richterin Irina Kolesnikowa den ehemaligen Ölmilliardär bereits schuldig gesprochen, und selbst ein Urteil über dem von der Staatsanwaltschaft geforderten Strafmaß von zehn Jahren schließen Beobachter in Moskau nicht mehr aus.

Wenn Michail Borisowitsch Chodorkowski heute früh seine karge Zelle im Moskauer Gefängnis „Matrosenstille“ verlässt, erwartet ihn ein hartes Urteil. In allen Anklagepunkten hat Richterin Irina Kolesnikowa den ehemaligen Ölmilliardär bereits schuldig gesprochen, und selbst ein Urteil über dem von der Staatsanwaltschaft geforderten Strafmaß von zehn Jahren schließen Beobachter in Moskau nicht mehr aus. Politischer Schauprozess oder seriöse Verhandlung?

Für Gernot Erler ist die Sache eindeutig. Der Prozess sei „kein groß angelegter Versuch, das potenzielle Oligarchen-Unrecht aufzuarbeiten“, sondern richte sich in seiner „Einzigartigkeit klar an Chodorkowski selbst“. In seinem jüngst erschienenen Buch „Russland kommt“ schildert der SPD-Fraktionsvize und Russlandexperte detailliert und kenntnisreich den Verlauf der Affäre um den Ölkonzern Jukos und seinen Eigner Chodorkowki: Von der Verhaftung einzelner Mitarbeiter, Durchsuchungsaktionen bei der Jukos-Stiftung „offenes Russland“, der Verhaftung Chodorkowskis bis zum Verkauf der Jukos-Anteile an die Kreml-Strohmannfirma „Baikal-Finanz“. Er kommt dabei zur Einschätzung, dass die Steuerpraxis von Jukos „keinen Anlass zu dem rigorosen Vorgehen der Behörden“ gab. Stattdessen habe Chodorkowski den russischen Präsidenten Putin unmittelbar herausgefordert: Zum einen stellte der Jukos-Chef überkommene Hoheitsrechte des Staates in Frage und beteiligte US-Firmen an der Exploration russischer Ölfelder – eine Kriegserklärung an konservative Kreise im Kremlapparat, die vor einem Ausverkauf russischer Interessen warnten. Zum anderen investierte er hohe Summen in politische Netzwerke, seine Stiftung „Offenes Russland“ und ihm genehme Parteien und beteiligte sich immer unverblümter am politischen Geschehen in Moskau.

Erler, der in Russland studiert hat, versucht in seinem Buch auch eine Annäherung an zwei weitere für die jüngste russische Geschichte einschneidende Ereignisse: Der Terroranschlag auf die Schule von Beslan und die orangene Revolution in Kiew. Beslan habe die Tendenz zu einer Stärkung der „Machtvertikale“ – der weitgehenden Ausschaltung des Wahlrechts auf regionaler Ebene – verfestigt. Der „Fall Ukraine“ werde Russland zur Neuorientierung seiner Außenpolitik zwingen.

Erler warnt vor zu großen Erwartungen an den russischen Transformationsprozess. Noch immer sei die „Trauerarbeit an dem Verlust imperialer Größe“ noch nicht abgeschlossen, noch immer gebe es ein „Identitätsvakuum“, in der auch imperiale und eurasische Konzepte blühen, die die Übernahme westlicher Wertesysteme strikt ablehnen. Erler zeigt das exemplarisch am umstrittenen Versuch des russischen Präsidenten, Privilegien aus der Sowjetzeit abzuschaffen. Noch immer herrsche in Moskau ein Denken vor, das der Autor mit einem Radiokommentar vom September 2004 belegt: „Das Leben war gut. Die ganze Welt fürchtete uns. Die Wurst war billig und schmeckte. Wir schickten Leute in den Weltraum und gewannen Eishockey-Spiele. Was für demokratische Werte brauchen wir?“

Für eine „konstruktiv-kritische“ Partnerschaft zwischen Deutschland und Russland sieht Erler keine Alternative – sicher auch, weil Deutschland „30 Prozent seines Erdöl- und 40 Prozent seines Erdgasbedarfs aus russischen Lieferungen“ decke. Das, so Erler, „setzt Vertrauen voraus“. Es ist zu hoffen, dass Erler seine kritischen Anmerkungen über Tschetschenien, über Chodorkowski und über die russische Haltung zur Ukraine auch im persönlichen Kontakt mit russischen Politikern einfließen lässt.

– Gernot Erler: Russland kommt. Herder Spektrum, Freiburg 2005. 190 Seiten, 8,90 Euro.

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