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Medienkritik: Bitter im Abgang

Warum die Medien zu einer Gefahr für unsere Gesellschaften werden – und ich selbst daran nicht ganz unschuldig bin.

Wenn ich hier versuche, mir über die Herausforderungen neuer Kommunikationstechnologien für die Politik und die Medien Gedanken zu machen, dann tue ich das nicht, um auf irgendwelche Attacken oder bestimmte tagesaktuelle Schlagzeilen zu reagieren. Ich möchte mich auch nicht darüber beklagen, wie unfair mir so manche Kritik erscheint. Ich habe immer gesagt, was für immenses Privileg es ist, den Job machen zu dürfen, den ich mache. Wenn das schlechteste, das mir dabei unterläuft, eine harte Berichterstattung in den Medien ist, dann zahle ich den Preis gerne. Und irgendwie habe ich eben nun mal drei Wahlen gewonnen und bin noch immer da, während ich jetzt mein Amt niederlege.

Ich will mich also nicht beschweren. Ich will streiten. Nachdem ich jetzt 13 Jahre ganz oben im rutschigen Terrain der Politik war, zehn davon als Premierminister, hat mich meine Arbeit als Premier einiges über das Zusammenspiel mit der Welt der Kommunikation gelehrt – im Guten wie im Schlechten.

Freie Medien sind ein vitaler Bestandteil der freien Gesellschaft. Um das zu erkennen, muss man nur dorthin schauen, wo es freie Medien nicht gibt. In einer freien Gesellschaft muss man Medien kritisieren dürfen. Auch ich habe dazu das Recht. Ich will niemanden tadeln. Es geht mir darum, mir darüber Gedanken zu machen, wie sich das Verhältnis zwischen Politik und den Medien infolge neuer Kommunikationsformen geändert hat. Niemand trägt daran Schuld. Es ist einfach eine Tatsache. Ich glaube allerdings, dass diese Entwicklung ernstlich von Nachteil für unser öffentliches Handeln ist, und dass wir eine umfassende Debatte darüber brauchen, wie wir die Zukunft managen wollen – in der es in unser aller Interesse ist, dass die Öffentlichkeit richtig und genau informiert wird.

Aus meiner Sicht ist das gegenwärtig jedoch nicht immer der Fall. In meiner Analyse möchte ich zuallererst meine Mitschuld bekennen. In der Frühzeit unseres New Labour-Projekts haben wir uns enorm darum bemüht, die Medien zu umwerben, zu umschmeicheln, zu überzeugen. Uns selbst zu verteidigen, im doppelten Wortsinne – nach 18 Jahren der Opposition und einer zuweilen grausamen Feindschaft zu Teilen der Medien – dazu gab es aus unserer Sicht kaum eine Alternative. Solch eine Einstellung lief allerdings Gefahr, genau den Tendenzen in den Medien Treibstoff zu liefern, die ich hier hinterfragen möchte.

Die Tatsache, dass die Beziehung zwischen Politik und Medien schon immer spannungsgeladen ist, will ich hier einmal ignorieren – auch die Auffassung meines Amtsvorgängers Stanley Baldwin über die Medien, der von der Macht ohne Verantwortung sprach, die doch eigentlich das Vorrecht der Huren sei. Ist heute etwas anders, qualitativ und quantitativ? Ich denke ja.

Warum? Weil sich die Rahmenbedingungen, in denen sich Kommunikation heute abspielt, radikal verändert haben. Die Welt der Medien – wie vieles andere auch – ist fragmentierter und vielfältiger geworden und sieht sich radikalen technologischen Umwälzungen gegenüber. Früher hatten Nachrichten bei BBC oder ITN acht bis zehn Millionen Zuschauer. Heute im Durchschnitt gerade mal die Hälfte. Zur gleichen Zeit überrollen uns Live-Nachrichtensender, die überall und sofort über Ereignisse berichten. 1982 gab in Großbritannien drei Fernsehsender, heute sind es Hunderte. 1995 hatten 225 TV-Shows mehr als 15 Millionen Zuschauer, heute schaut praktisch keiner mehr hin. Zeitungen kämpfen um ihren Anteil an einem schrumpfenden Markt. Viele werden jetzt online gelesen, nicht erst am nächsten Tag. Internet- Werbung hat Zeitungsanzeigen eingeholt. Es gibt 70 Millionen Blogs weltweit, jeden Tag kommen 120 000 hinzu. Verschiedene Kommunikationsformen verschmelzen und wechseln einander ab. Zeitungen haben Podcasts und weiter führende Informationen im Internet. Nachrichten werden zunehmend ein freies Gut, online kostenlos verfügbar. Diese Tendenzen werden sich verstärken, das ist ganz offensichtlich. Weniger offensichtlich ist das, was daraus folgt.

Wir haben 24 Stunden am Tag Nachrichten, sieben Tage pro Woche. Alles bewegt sich in Echtzeit. Zeitungen liefern keine aktuellen Nachrichten mehr – die sind bereits auf dem Markt. Sie brauchen stattdessen Enthüllungsgeschichten, sie müssen Themen setzen, Kommentare abgeben. Und das alles in einer immensen Geschwindigkeit.

Im Wahlkampf 1997 hatten wir jeden Tag ein besonderes Thema. 2005 mussten wir eines für den Morgen, eines für den Nachmittag haben, und vor dem Abend war die Tagesordnung bereits weitergegangen. In den 1960er Jahren beschäftigte ein einziges Problem die Regierung manchmal zwei ganze Tage. Lachhaft anzunehmen, sie könnten das heute tun, ohne dass ihnen schon vor dem Mittagessen am ersten Tag die Welt über dem Kopf zusammenbricht.

Kein Zweifel, in den letzten Jahren hat sich vieles geändert. Die Gefahr ist aber, dass wir daraus den gleichen, falschen Schluss wie die Medien ziehen – und die Schuld bei bösen Menschen suchen. Doch nicht die Menschen haben sich geändert, sondern die Rahmenbedingungen, unter denen sie arbeiten. Wir fragen uns in nicht enden wollenden Debatten, warum es so viel Zynismus über die Politik und die Öffentlichkeit gibt. Politiker sind geradezu dazu gezwungen, sich bei solchen Debatten selbst zu geißeln und zu behaupten, sie alleine hätten schuld daran.

Es gibt eine Debatte darüber, warum das Parlament immer weniger beachtet wird. Wie immer ist die Regierung daran schuld. Wir haben aber die Zuständigkeiten des Parlamentes gar nicht verändert. Was sich dagegen geändert hat, ist die Art, wie aus dem Parlament berichtet oder eben nicht berichtet wird. Medien sehen sich heute einer viel intensiveren Form der Konkurrenz gegenüber als jemals zuvor. Längst haben sie auf diese Entwicklung keinen Einfluss mehr – sie sind zu ihrem Opfer geworden. Das Ergebnis sind Medien, die zunehmend von der Sehnsucht nach Aufmerksamkeit getrieben werden. Aufmerksamkeit zählt, sie macht unterscheidbar, sie erhebt sich über dem Lärm, sie wirkt. Aufmerksamkeit schafft Wettbewerbsvorteile. Natürlich zählt auch die Genauigkeit einer Geschichte. Wichtiger aber ist die Aufmerksamkeit, die sie erreicht. Doch die Sehnsucht nach Aufmerksamkeit lässt die Standards ausfasern, sie treibt das Niveau nach unten. Die Vielfalt der Medien – nicht ihr Einfluss im Einzelnen – sorgt dafür, dass die Sensationslust überhandnimmt. Qualitätszeitungen stehen heute unter demselben Druck wie Boulevardblätter; TV- und Rundfunksender zunehmend unter dem gleichen Druck wie Qualitätszeitungen. Das Publikum muss eingefangen und festgehalten werden, seine Emotionen geschürt werden. Was einfach nur interessant ist, ist weniger wirkmächtig als das, was den Zuschauer ärgerlich oder erschüttert werden lässt.

Die Folgen sind offenkundig. Skandal und Streit verdrängen gewöhnliche Reportagen. News sind nur dann News, wenn sie genauso viel Hitze erzeugen wie Licht. Zweitens ist es viel verlockender, ein Motiv zu kritisieren als eine Entscheidung selbst. Es reicht nicht, wenn jemand einfach nur einen Fehler macht. Das Ganze muss nach Käuflichkeit riechen, nach Verschwörung. Drittens: die Angst, etwas zu verpassen, bedeutet, dass die Medien heute mehr denn je im Rudel jagen. In dieser Form gleichen sie einem wilden Tier, das Menschen und Reputationen schlicht in Stücke reißt. Niemand wagt, nicht dabei zu sein. Viertens, statt einfach Nachrichten zu berichten, seien sie noch so reißerisch oder kontrovers, besteht die neue Technik darin, die Kommentierung einer Nachricht so wichtig oder sogar noch wichtiger zu nehmen als die ursprüngliche Nachricht.

Es wird zum Beispiel häufig genauso viel Interpretation geliefert von dem, was ein Politiker sagt, wie berichtet wird, was er überhaupt sagt. Und in der Interpretation zählt nicht mehr, was die Politiker sagen wollen, sondern was man daraus machen kann. Das führt zu der ausgesprochen frustrierenden Beschäftigung, immens viel Energie aufwenden zu müssen, um Behauptungen über die Bedeutung von Zitaten zu widersprechen, die in geringem oder gar keinem Verhältnis zu dem stehen, was gemeint war.

Das führt zwangsläufig zum fünften Punkt: die Verschmelzung von Nachricht und Kommentierung. Der Kommentar ist ein vollkommen achtbarer Teil von Journalismus. Doch Meinung und Tatsache sollen klar unterschieden sein. Die Wahrheit ist, dass ein großer Teil der Medien heute diese Unterscheidung nicht einfach verwischt, sondern die Vermischung zum Konzept erhebt. In anderen Worten: Wir sehen nicht etwa Ausnahmen, sondern den Alltag. Bestes Beispiel für diese Art von modernem Journalismus ist der „Independent“. Lassen Sie mich vorausschicken, dass er eine gute, unterhaltsame Zeitung ist und drucken kann, was und wie er es will. Doch die Zeitung war einmal Gegengift zu der Idee, dass es beim Journalismus um Meinung geht, nicht um Nachrichten. Deshalb nannte sie sich „ The Independent“ („Die Unabhängige“). Heute ist sie unverhohlen eine „Viewspaper“, nicht nur eine „Newspaper“. All das führt am Ende dazu, dass man Ausgewogenheit in den Medien heute nur noch selten findet. Dinge, Menschen, Themen, Geschichten, alles ist schwarz und weiß. Das Grau des Lebens fehlt fast vollkommen.

„Einiges war gut, anderes schlecht“, „einiges läuft richtig, anderes falsch“: Das sind Konzepte, die der heutigen Berichterstattung fremd sind. Alles ist ein Triumph oder eine Katastrophe. Jedes Problem ist „eine Krise“. Ein Rückschlag ist eine „gescheiterte“ Politik, Kritik eine „brutale Attacke“. Nichtregierungsorganisationen und Analysten wissen, dass sie übertreiben müssen – oder lieber gleich schweigen. Wenn sie mit Verantwortlichen im öffentlichen Dienst sprechen – etwa im Gesundheitswesen –, dann werden sie hören, dass niemand etwas gegen Kritik hat, dass die totale Unausgewogenheit jedoch vollkommen demoralisierend ist.

Wird es schlimmer? Wieder würde ich sagen: ja. In meinen zehn Jahren habe ich beobachten können, dass diese Phänomene immer stärker werden. Am Anfang gab es den Glauben – ich teilte ihn –, dass Abhilfe in Sicht sei. Neue Kommunikationsformen würden Möglichkeiten schaffen, die zunehmend schrillen traditionellen Medien zu umgehen. Doch in Wahrheit sind die neuen Medien bisweilen noch schädlicher, noch unausgewogener, noch gieriger, die frischeste Verschwörungstheorie zu potenzieren.

Hierin liegt auch eine Chance. Im Moment leiden wir alle darunter, wie Medien und Politik miteinander umgehen. Das Vertrauen in Journalisten ist kaum höher als das in Politiker. Es gibt einen Markt für ernsthafte, ausgewogene Berichterstattung. Es gibt einen Hunger nach Unbefangenheit. Der Zugang der Menschen zu den Nachrichten ändert sich vielleicht, aber das Bedürfnis nach echten Nachrichten ändert sich nicht. Die Medien fürchten vermutlich, dass weniger Aufmerksamkeit auch weniger Auflage bedeutet. Doch das Gegenteil ist der Fall.

Medien müssen ihre große Stärke wieder ausspielen: zwischen Nachricht und Kommentar zu unterscheiden. Gelegentlich wird gesagt, die Verantwortung der Medien zeige sich bereits darin, dass die Medien das Vertrauen ihrer Leser und Zuschauer nicht verspielen wollen. Das mag ja stimmen. Doch in Wirklichkeit fehlt Zuschauern und Lesern der objektive Maßstab, um zu ergründen, was ihnen eigentlich erzählt wird. In jedem anderen Bereich unserer Gesellschaft, in dem Macht ausgeübt wird, gibt es Mechanismen der Verantwortlichkeit. Politiker etwa üben Verantwortung nicht nur über die Wahlurne aus, sondern sie müssen sich Tag für Tag in den Medien verantworten. Freie Presse ist deshalb so wichtig. Reicht ihre Verantwortlichkeit aus?

Ich kann hier keinen Königsweg aufzeigen. Aber irgendeinen Weg müssen wir finden. Das Verhältnis zwischen Politik und Medien ist derart kaputt, dass wir dringend eine Reparatur brauchen. Der Schaden schwächt das Vertrauen in unserem Land, es untergräbt das Urteil über dessen Institutionen, vor allem hindert es uns daran, richtige Entscheidungen im Vertrauen auf die Zukunft zu treffen.

Ich habe es mir nicht leicht gemacht, darüber zu reden. Einige werden mich bestimmt dafür verprügeln. Doch das musste einfach mal gesagt werden.

Tony Blair

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