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MEIN Blick: In dubio pro Gauck

Die Wahl des Bundespräsidenten soll hoffen lassen. Gesucht wird ein Präsident, der reden kann und etwas zu sagen hat, der also aufgrund seiner Lebensleistung Unabhängigkeit und moralische Autorität genießt.

Dass Joachim Gauck diese Voraussetzungen erfüllt, Ministerpräsident Christian Wulff jedoch eher weniger, bestreiten nicht einmal dessen Unterstützer. Da der richtige Mann aber von der falschen Seite ins Spiel gebracht wurde, beginnen die Interessierten, Gauck zu delegitimieren, damit die Sache missrät.

Das beginnt bei Gerüchten über persönliche Unzuverlässigkeit und seine ungeklärten Familienverhältnisse. Im Klartext: Ein Außenminister mit einem Lebensgefährten ist gut und richtig, ein Bundespräsident mit einer Gefährtin nicht.

Das geht weiter über das geradezu vernichtende Urteil, dass Gauck in keine Netzwerke und Seilschaften eingebunden sei und deshalb scheitern müsse wie Horst Köhler. Als ob der Bundespräsident bloß als verlängerter Arm einer regierenden Mehrheit vorstellbar sei, der gefälligst zu parieren habe und auf keinen Fall den Konsens der politischen Klasse verlassen dürfe. „Politik ist einfach so“, nennt das ein ehemaliger Herausgeber und Chefredakteur einer großen deutschen Zeitung. Eben! Gerade weil sie so ist, verliert sie ununterbrochen an Ansehen und treibt der Zynismus des „Ohne mich“ immer neue Blüten.

Und damit alles so bleibt, nimmt man auch noch die selffulfilling prophecy zu Hilfe: Wenn Wulff nicht gewählt wird, ist Merkel am Ende. Abgesehen davon, dass niemand die Parteiführungen von CDU und FDP gezwungen hat, die Causa Bundespräsident zum K.o.-Kriterium für die Koalition zu machen, wird hier auch noch ein Popanz künstlich aufgeblasen, um unsichere Kantonisten bei der Stange zu halten und sie mit dem Gespenst von Neuwahlen das Fürchten zu lehren. Wenn die Regierung scheitert, dann nicht an Gauck, sondern an sich selbst, an einem überforderten Außenminister und FDP-Vorsitzenden und den nahezu täglichen Unverträglichkeiten der einstigen Wunschkoalitionäre. Die sozialliberale Koalition ergab sich einst so wenig zwingend aus der Wahl Gustav Heinemanns zum Bundespräsidenten, wie die Wahl Köhlers den Vollzug eines schwarz-gelben Bündnisses nach sich zog.

Es mag ja sein, dass Rot-Grün Gauck nicht vorgeschlagen hätte, wenn beide eine Mehrheit in der Bundesversammlung hätten. Doch bekanntlich sind Gottes Wege wunderbar, und warum soll ein bürgerlicher Kandidat nicht auch einmal durch falsche Freunde an die richtige Stelle gebracht werden? Wer den Wunsch hat, das moralische Störpotenzial eines gebrochenen Lebenslaufes aus der Politik fernzuhalten, wird für den Regierungskandidaten stimmen. Wer trotz aller Enttäuschungen den Glauben an die Persönlichkeit in der Politik nicht verloren hat, sollte Gauck wagen. Das ist keine Literatur, wie Frank Schirrmacher meint, sondern die Hoffnung auf eine etwas weniger trostlose politische Praxis, als wir sie in den letzten sechs Monaten erleben, besser noch erleiden mussten.

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