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Hatice Akyün ist Autorin und freie Journalistin. Sie ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause.

© promo

MEINE Heimat: Schrei nach Gerechtigkeit

Wir essen Kühe und in Istanbul gehen Menschen auf die Straße. Wie erkläre ich das bloß meinem Kind?

Es gibt Situationen, da stößt man als Mutter an seine Grenzen und kommt dennoch nicht umhin, diese überwinden zu müssen. Kinder haben die Eigenschaft, einem durch einfache Fragen das Wertegerüst so sehr durchzuschütteln, dass man intensiv darüber nachdenken muss, wie man derart Grundsätzliches, jenseits von Worthülsen, glaubhaft beantwortet.

Einmal sollte ich meiner Tochter erklären, warum Menschen sterben müssen. Dann wollte sie wissen, ob ich sie eines Tages auch nicht mehr lieb haben würde, weil ich ihren Papa ja auch nicht mehr liebte. Sie konfrontiert mich mit Fragen, die nicht einfach zu beantworten sind. Aber ich merke auch, wie ihr kleiner Kopf langsam Dingen auf den Grund geht. Neulich stand ich mit ihr vor der Fleischtheke, dahinter ein riesengroßes Bild einer glücklichen Kuh auf der Weide. Sie schaute auf die Kuh, schaute auf das rote Fleisch in der Auslage, schaute wieder auf die Kuh auf dem Bild und fragte: „Mami, ist eine Kuh Fleisch?“ Das traf mich ziemlich unvorbereitet, und mir fiel in dieser Situation nichts Besseres ein, als geschickt das Thema zu wechseln und schnell die Fleischtheke zu verlassen. Zum Abendessen gab es Gemüse-Lasagne. Ich fragte mich, wie wohl andere Mütter mit der Aufgabe umgehen, ihren Kindern die Welt zu erklären.

Nun hat sie im Kindergarten mitbekommen, dass in dem Land, in dem ihre Großeltern, Tanten, Cousinen und Cousins leben, Menschen auf die Straße gehen, um für Gerechtigkeit zu kämpfen. Was ist Gerechtigkeit, wollte sie also von mir wissen. Gute Frage, nächste Frage, dachte ich mir und erwischte mich an einem wunden Punkt. Ich habe ihr von dem Park in Istanbul erzählt, vom Bauboom und den hohen Mieten, dass Menschen vorgeschrieben bekommen, wie sie zu leben haben. Dass eine Regierung nicht merkt, wie ihr Volk immer wütender über die Bevormundung wird.

Dass ich als Mutter sie allerdings auch zu sehr bevormunde, diesen Vorwurf konnte ich gerade noch dadurch entkräften, dass ich ihr erklärte, durchaus in ihrem Interesse zu handeln. Puuh, ich war froh, dass sie nicht nachhakte und sagte, dass die Regierung auch denken könnte, im Sinne ihres Volkes zu handeln.

Was ist Gerechtigkeit? Verteilungs-, Leistungs-,Chancengerechtigkeit? Soziale Gerechtigkeit? Auch Erwachsene sagen oft das Gleiche, meinen aber nicht unbedingt dasselbe. Manchmal ist es weiße Salbe, manchmal braucht der eine mehr als der andere, und manchmal geht es schlichtweg darum anzuerkennen, dass der andere legitime Bedürfnisse hat und diese auch formulieren darf.

Wo es dann aber mit der Gerechtigkeit klemmt, das ist, wenn die eine Seite nicht erkennt, wodurch die andere sich benachteiligt fühlt. Und dieses Unverständnis wird dadurch kompensiert, dass man erst ignoriert, dann problematisiert, stigmatisiert und schließlich sogar eliminiert.

Der Schrei nach Gerechtigkeit wird durch Tränengas nicht unsichtbar, durch Wasserwerfer nicht ertrinken und durch Knüppel nicht stumm. Oder wie mein Vater sagen würde: „Söyleyene bakma, söylenene bak.“ Achte nicht auf den, der spricht, achte auf das, was gesprochen wird.

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