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MEINE Heimat: Sehnsucht nach dem Mausgrauen

Bei maximaler Verwirrung höchstmögliche Effekte erzielen: Wer in dieser Woche an der Spitze der Gaga-Bewegung stand

Hat die Uno die Woche des Flach- und Schwachsinns ausgerufen? Kein gescheites Thema, keine Kontroverse, keine Substanz. Wie es scheint, war die politische Klasse in der letzten Woche komplett in den intellektuellen Hungerstreik getreten. Vermutlich hatte man sich parteiübergreifend darauf geeinigt, nachdem der Maulkorberlass für Abgeordnete nun doch nicht in die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages aufgenommen wurde.

Der Plan ist ganz einfach, er heißt „paradoxe Intervention“. Man macht genau das Gegenteil von dem, was man tun müsste, und macht es so konsequent, dass bei maximaler Verwirrung höchstmögliche Effekte erzielt werden. Das geht so lange, bis wir uns nach den mausgrauen Vertretern des Mittelmaßes zurücksehnen.

Die FDP durfte vorlegen. Die Sternschnuppe von NRW, Christian Lindner, präsentierte sich als neue Lichtgestalt, indem er allen anderen Mitbewerbern jegliche Fähigkeit absprach und sich als Heilsbringer empfahl. Wofür? Das sagte er nicht. Als Wolfgang Kubicki schließlich einen höheren Spitzensteuersatz forderte, war mir klar, dass sich zur Freiheit und zum Wachstum nun auch der Wahnsinn als programmatischer Dreiklang bei der FDP gesellt.

Mittlerweile schon voll integriert in dieses Szenario sind die Piraten. Tingelnd durch die Talkshows senden sie ihre Botschaft: Wir haben keine Ahnung, aber davon jede Menge. Getreu dem Motto „anything goes“ werden Grenzen getestet, notfalls mit denen der Landkarte von 1942. Dagegen war eine Schlingensief-Inszenierung so bieder wie die Bluse von Kristina Schröder.

Da wollte die Union nicht zurückstecken und schickte ihren Fraktionschef ins Rennen. Kauders launiger Versuch, meine Religion des Landes zu verweisen, verlief aber im Sande. Da beschloss man schnell, bei der „Herdprämie“ nachzulegen. Der neueste Clou ist, dass Hartz-IV-Bezieher leer ausgehen sollen. Das adelt das Vorhaben, denn neben der Sinnlosigkeit schmückt diese Initiative jetzt auch noch das Prädikat der Ungerechtigkeit.

Alsbald setzte sich die SPD an die Spitze der Gaga-Bewegung und verkündete in NRW: „Currywurst ist SPD.“ Den Ketchup der Marke, mit dem Nachnamen der Ministerpräsidentin, ließ man jedoch weg. Man muss seine Klientel offenbar so unterfordern, dass die Paralyse nahtlos in die Erlösung übergeht. Wie anders ist der Machtkampf um den Vorsitz der Berliner SPD zu erklären? Der eine will, dass die SPD gesichtslos bleibt, um auch in Zukunft voll regierungsfähig zu bleiben, und der andere will das neue Gesicht der SPD werden, und beide wollen eigentlich nur ihre Stühlchen gegen den Chefsessel austauschen.

Mir klingen noch die Sätze von Franz Müntefering in den Ohren, der als Vizekanzler einmal sagte: „Politik ist zu 95 Prozent solides Handwerk. Wenn das klappt, bleiben noch 5 Prozent für Kreativität und Genie.“ Damals fand ich das zu langweilig für mein lebendiges Land. Heute habe ich Sehnsucht danach. Oder wie mein Vater sagen würde: „Akillari pazara cikartmislar, herkez yine kendi aklini almis“ – man bot Verstand auf dem Markt an, und jeder kaufte wieder seinen eigenen.

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