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Meinung: Liberal? Das war einmal

Die FDP verrät ihr Erbe, diskreditiert den Sozialstaat und pervertiert den Begriff der Fairness. Ein Gastkommentar

Die Befunde sind alarmierend. In Deutschland, so das Ergebnis einer Untersuchung im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, breitet sich zunehmend Skepsis gegenüber der parlamentarischen Demokratie aus; Enttäuschung und Abwendung von der Politik nehmen dramatisch zu.

Der zentrale Grund: Das Vertrauen in die Demokratie, das stark von sozialen Voraussetzungen abhängt, erodiert immer mehr. Nur 12 Prozent der in der Ebert-Studie Befragten glauben, dass es in unserem Land gerecht zugeht; nur 9 Prozent sind der Meinung, dass alle Menschen über gleiche Lebenschancen verfügen. Dabei wird beides von großen Mehrheiten für äußerst wichtig gehalten. Hier zeigt sich: Aus der Sicht vieler Bürger klafft mittlerweile eine riesige Lücke zwischen ihren Erwartungen an eine lebendige, funktionierende Demokratie und den tatsächlichen Verhältnissen in unserem Land. Die Bürger erleben die scheinbare Ohnmacht der Politik und fühlen sich dem wirtschaftlichen Wandel schutzlos ausgeliefert. Viele hoffen nur noch, dass die Krise sie persönlich am Ende nicht treffen wird.

Überall in Deutschland spüren Menschen den zunehmenden Mangel an Gerechtigkeit und Fairness. Doch statt über ernsthafte Korrekturen und notwendige Gegenmaßnahmen einen politischen Streit zu führen, passiert das Gegenteil: Wir erleben wüste Attacken und Agitationen eines wortmächtigen Teils unserer selbst ernannten „Eliten“ – von Peter Sloterdijk bis Guido Westerwelle – in der eindeutigen Absicht, die Kernaufgabe unseres Sozialstaates, für sozialen Ausgleich zu sorgen und sozial Schwächere und Bedürftige zu unterstützen, in Verruf und Misskredit zu bringen. Das Ziel der populistischen Angriffe auf den Sozialstaat ist klar: Der Staat soll darauf verzichten, durch Leistungen und Umverteilung mehr Fairness und mehr soziale Gerechtigkeit zu erreichen.

Stets ist die Methode dieselbe: Es beginnt mit einer forschen medialen Provokation, in deren Verlauf sich der Agitator, wenn der Gegenwind zunimmt, selbst zum Opfer stilisiert – garniert mit Formeln auf Stammtischniveau: „Man wird doch wohl mal sagen dürfen.“ Elitäre Biedermänner agieren als Brandstifter, die doch nur das aussprechen, was sie als das „gesunde Volksempfinden“ vermuten.

Der Clou dabei ist die semantische Camouflage: Auch um von Westerwelles „spätrömischer Dekadenz“ und seiner infamen Kritik angeblich massenhaften „anstrengungslosen Wohlstands“ von Hartz-IV-Empfängern abzulenken, propagiert der FDP-Generalsekretär jüngst einen „mitfühlenden Liberalismus“, der auf einen „fairen Sozialstaat“ abziele. Hinter diesem taktischen Versuch der Begriffsbesetzung verbirgt sich ein dreister Etikettenschwindel.

Fairness ist heute weit mehr als „nur“ die Bezeichnung für eine sozial wünschenswerte, weil gerechte, ehrliche und anständige Haltung im täglichen Leben. Fairness ist ein hochpolitischer Begriff, weil er nicht nur eine Haltung, ein Prinzip des Handelns der Menschen untereinander beschreibt, sondern auch das wünschenswerte Ziel im gesamten gesellschaftlichen Zusammenleben.

Wenn dagegen der FDP-Generalsekretär von einem „Gebot der Fairness, die Bürger zu entlasten“ spricht, artikuliert sich darin ein höchst ungenügendes, defizitäres Fairness-Verständnis. Für die FDP bedeutet Fairness in erster Linie die Entlastung des Einzelnen von den Belastungen durch den vermeintlich unfairen Staat.

Diese verkümmerte Interpretation von Fairness korrespondiert mit der Umdeutung des Begriffs der Freiheit bei der heutigen FDP-Generation. Freiheit reduziert sich für sie nur noch auf die Freiheit vom Steuerzahlen. Der Bürger existiert nur noch als Steuerbürger, dessen Staat ihm als feindlicher Steuerstaat gegenüber steht. Mit der großen und stolzen Tradition der Liberalen hat dies nichts zu tun. Es waren doch einst die liberalen Freiheitsbewegungen gewesen, die – gemeinsam mit der Sozialdemokratie – den Obrigkeitsstaat überhaupt erst zum Instrument des Gemeinwohls umgeformt haben.

Für „echte“ Liberale war der demokratische Staat kein Feind oder Bürgerschreck, sondern Garant von Freiheit und Selbstbestimmung. Und progressive Steuern nach Leistungsfähigkeit sollten die Teilhabe aller an diesem demokratischen Gemeinwesen ermöglichen, in dem sie all das gemeinschaftlich finanzieren halfen, was sich der Einzelne nicht leisten konnte: Schulen, Universitäten, soziale Sicherheit und Rechtsstaat.

Diese große liberale Erfolgsgeschichte wird durch das Gerede der jungen FDP-Garde, der Staat sei „ein teurer Schwächling“ pervertiert. Statt den demokratischen Staat erneut zu legitimieren und, wo nötig, auch zu reformieren und ihn wieder im erlebten Alltag der Bürger unseres Landes zu diesem Instrument des allgemeinen Wohls zu machen, verrät die FDP ihr eigenes Erbe und wird mehr und mehr zur reinen Klientelpartei.

Nichts zu tun hat dieser Wille zu einem auf Klientelpolitik verpflichteten Marktstaat mit dem sozialdemokratischen Staatsverständnis und der sozialdemokratischen Vorstellung von einer fairen Gesellschaft. Der Staat erwächst nach Auffassung der SPD überhaupt erst aus der Verständigung seiner Bürger darüber, was sie als fair und gerecht begreifen. Die von Westerwelle angetriebene Debatte versucht dagegen, verschiedene besonders schwache Gruppen der Gesellschaft gegeneinander auszuspielen: diejenigen, die gar keine Arbeit haben, gegen jene, die von ihrer Arbeit nicht leben können, Hartz-IV-Empfänger gegen Bezieher von Armutslöhnen.

Im Zuge der Globalisierung und angesichts einer zunehmenden Differenzierung der Gesellschaft erleben wir dramatische Exklusionsvorgänge, die ganze Generationen prägen. Auf der einen Seite stehen Erben, denen in den kommenden Jahren erheblicher Reichtum ohne eigene Leistung übertragen wird, auf der anderen Seite immer mehr junge Menschen, die bereits im Kindesalter chancenlos sind. Abstammung und Herkunft erlangen damit entscheidende Bedeutung bei der Verteilung von (Lebens-)Optionen, von Fairness kann keine Rede mehr sein. Die „echten“ Liberalen wären diesem Missstand entschieden begegnet. Schließlich traten sie gerade für ein Leben unabhängig von Herkunft, Rasse oder Religion ein.

An diesem Punkt muss daher eine grundlegende Fairness- und Gerechtigkeitsdebatte beginnen. Dafür bietet bis heute das 1971 erschienene Hauptwerk des Klassikers der Gerechtigkeitstheorie, John Rawls, die entscheidende Grundlage. Rawls Verständnis von „Gerechtigkeit als Fairness“ geht davon aus, dass jedem Einzelnen gleiche Grundfreiheiten und faire Lebenschancen zustehen müssen. Das bedeutet: Die Einkommens- und Reichtumsunterschiede innerhalb einer Gesellschaft verstehen sich, anders als Konservative und Liberale in Deutschland dies fordern, nicht von selbst, sondern sie müssen sich stets vor der Gesellschaft und ihren Mitgliedern rechtfertigen.

Diese Auffassung teilten auch die sozialliberalen Freiburger Thesen der FDP, die – gewiss nicht zufällig – auch aus dem Jahr 1971 stammen. Dort heißt es: „In einer Gesellschaft, in der Besitz und Geld der Schlüssel für fast alle Betätigung der Freiheit ist, ist die Frage des gerechten Anteils an der Ertragssteigerung der Wirtschaft und am Vermögenszuwachs der Gesellschaft nicht nur eine Gerechtigkeitsfrage: sie ist die Freiheitsfrage schlechthin.“ Hier zeigt sich: Zwischen dem bürgerlichen Liberalismus eines Karl-Hermann Flach und Werner Maihofer und dem rechtspopulistischen Westerwelle-Liberalismus liegen zwar „nur“ 40 Jahre, aber faktisch weit mehr als ein gefühltes Jahrhundert.

Offensichtlich spricht die gesellschaftliche Entwicklung der Rawl’schen Gerechtigkeitskonzeption und den Freiburger Thesen Hohn. In den letzten zwei Jahrzehnten sind die Einkünfte der oberen Einkommensklassen zulasten der unteren massiv gestiegen – und dabei vor allem die Bezüge all jener, die keinerlei eigene Leistung erbringen, sondern von Zins- und sonstigen Vermögenseinkünften leben. Das hat mit Fairness nichts zu tun. Denn das vielleicht grundlegendste Prinzip der Fairness ist das von Leistung und Gegenleistung, das Trittbrettfahren verhindert und Leistungen eines jeden (!) Bürgers der Gesellschaft verlangt.

Leistungsloses Einkommen von Gutsituierten oder anstrengungslos, weil durch schlichte Vererbung zu Reichtum Gekommenen müsste daher speziell jedem wirklichen Liberalen ein Dorn im Auge sein – und umso mehr dem, der mit Fairness in der Gesellschaft argumentiert. Doch nicht so Westerwelle: Hier entlarvt sich sein Fairness-Diskurs als bloße Klientel-Fairness – als schlichtes polit-ökonomisches Tauschgeschäft oder Einlösung eines Wahlversprechens gegenüber der eigenen Wählerklientel.

Die sozialdemokratische Fairness-Definition ist eine fundamental andere. Fairness bezieht sich auf sämtliche Beziehungen der Bürgerinnen und Bürger: im Verhältnis zum Staat, innerhalb der Wirtschaft und untereinander in der Gesellschaft. Echte Fairness würde demnach mindestens voraussetzen, möglichst gleiche Startbedingungen für alle zu schaffen – sprich: Chancengleichheit.

Um im Bild des Sports zu bleiben: Ohne Fairness im Sinne von Chancengleichheit laufen einige den Langstreckenlauf des Lebens ohne Startblöcke, treten manche ohne Schuhe an und sind andere körperlich gehandicapt – und damit von Beginn an gegen viele andere chancenlos. Tatsächlich bringt dieses Bild nur etwas drastisch zum Ausdruck, wie ungleich – und damit unfair – heute die Startchancen in der Bundesrepublik verteilt sind, angesichts einer immer größeren Spreizung von Einkommen und Vermögen.

Einige (echte) Wirtschaftsliberale propagieren daher sehr ernsthaft die Forderung, dass man jede Generation bei null beginnen lassen müsse. Andernfalls, so die richtige Annahme, muss es gerade bei den am besten Situierten zu Phänomenen der Ermattung führen, oder – um im Westerwelle-Jargon zu bleiben – zu (wenn auch nicht spätrömischer) Dekadenz der Erbengeneration.

Die SPD hat den Anspruch, Motor und Treiber dieses weit gefassten Begriffs von Fairness zu sein. Aber wir wollen mehr, als nur einen Begriff propagieren. Wir wollen in Deutschland die politischen und die materiellen Voraussetzungen für eine Gesellschaft schaffen, die wieder als fair bezeichnet werden kann und sich selbst als fair empfindet.

Ob es um die Schaffung von fairen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt, ob es um die Wiederherstellung fairer Chancen im Bildungssystem oder ob es um die faire und gleiche Bezahlung von Frauen und Männern in Unternehmen geht: Die faire Gesellschaft als alternatives Modell eines künftig besseren Zusammenlebens ist unser aller Anstrengung wert.

Auf der Tagesordnung steht damit eine grundlegende Debatte über eine neue Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft, die alle beteiligt – etwa durch mehr Mitbestimmung und Teilhabe. Während sich die Machtverhältnisse in der globalen Ökonomie immer weiter verdichten, geht es nun darum, Leitplanken für Fairness in den nationalen Ökonomien einzuziehen, zum Beispiel durch Einführung fairer Mindestlöhne und verpflichtender Regelungen auf den Finanzmärkten.

Und nicht zuletzt geht es auch auf einer anderen, weil übergeordneten Ebene um eine globale Konzeption der Fairness, nämlich im Mensch-Natur-Verhältnis. Ohne einen fairen, ressourcenschonenden Umgang mit der Natur werden wir die ökologischen Grundlagen unseres Planeten nicht bewahren können. Fairness und nachhaltige Nutzung unserer natürlichen Lebensgrundlagen sind heute nicht mehr zu trennen.

Angesichts dieser gewaltigen Herausforderungen will die SPD „eine freie, gerechte und solidarische Gesellschaft“, wie es im Hamburger Programm von 2007 heißt. Jede einzelne dieser drei Dimensionen ist heute defizitär entwickelt. Erst ihre Verbindung macht für uns die faire Gesellschaft aus, die nicht nur das individuelle Wohl jedes und jeder Einzelnen, sondern eben auch das Gemeinwohl in den Mittelpunkt politischen und staatlichen Handelns stellt.

Fest steht allerdings: Das, was in unserem Land an neuer Fairness wirklich nottut, hat mit dem, was die FDP darunter versteht, leider nichts, aber auch gar nichts zu tun.

Der Autor ist Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei (SPD).

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