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Meinung: Mensch Mann

Nicht erst nach dem Amoklauf von Emsdetten müssen wir es zur Kenntnis nehmen: Das „starke“ Geschlecht steckt in der Krise

Die Dinge scheinen klar: Männer besetzen noch immer die wichtigsten Positionen in Wirtschaft, Politik, Kirche und Kultur; Männer verdienen im gesellschaftlichen Durchschnitt nach wie vor mehr als Frauen. Also müssen sie das mächtige Geschlecht sein.

In seinem Abschiedsbrief notiert der 18-jährige Amokläufer von Emsdetten: „Das Einzigste, was ich intensiv in der Schule beigebracht bekommen habe, war, dass ich ein Verlierer bin.“ Sind die Dinge vielleicht doch nicht so klar?

Männer werden öffentlich noch immer als das „starke Geschlecht“ wahrgenommen und stilisieren sich häufig auch selber noch so. Wird Männlichkeit zum Thema, dann entzündet sich die Kritik – in traditioneller feministischer Optik – an männlicher Macht und männlichen Privilegien. Dabei steht dann immer das ganze männliche Geschlecht zur Disposition. Dabei sind Machtpositionen und Vorzüge auf einen sehr kleinen Kreis von Männern beschränkt, die ihre privilegierte Stellung nicht nur auf Kosten von Frauen ausleben, sondern auch zum Schaden der großen Population ihrer eigenen Geschlechtsgenossen. Ebenfalls fällt aus dem Blickwinkel, dass der gesellschaftliche „Bodensatz“ von Obdachlosen, chronisch Kranken (zum Beispiel HIV-Infizierte), Randständigen generell, Wanderarbeitern und anderen fast ausschließlich männlich ist. So berechtigt die Kritik an männlicher Usurpation von Macht und Status selbstverständlich ist, so verzerrt ist sie auch, wenn nicht zwischen Männern, männlichen Milieus und männlicher Schichtzugehörigkeit differenziert wird.

Inzwischen sind Jungen und Männer auch im Arbeitsleben Benachteiligungen ausgesetzt, wo öffentlich noch immer ihre Stärken und Dominanzen vermutet werden. Während die Quote weiblicher Erwerbstätigkeit weiter steigt, geht die der Männer stetig zurück. Im deutschsprachigen Raum werden inzwischen proportional mehr Männer arbeitslos als Frauen. In deutschen Großstädten wie beispielsweise in Berlin gibt es bereits mehr Frauen in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen als Männer. Perspektivisch wird sich diese Entwicklung noch verstärken. Ein Faktor dafür ist der wachsende Vorsprung von Mädchen in der Bildung. Der Schulerfolg von Mädchen ist inzwischen signifikant höher als der von Jungen, die das Gros von Problemkindern, notorischen Schulschwänzern, Schulversagern, Ausbildungsabbrechern und Frühkriminellen ausmachen.

Wurde einst die höhere Arbeitslosigkeit von Frauen als gesamtgesellschaftliches Skandalon bezeichnet, wird nun die höhere Arbeitslosigkeit von Männern als Selbstverständlichkeit genommen; sie ist jedenfalls für die Geschlechter- und Gleichstellungspolitik hierzulande kein Thema.

In anderen Lebensbereichen ist die Situation für Jungen und Männer noch erheblich gravierender. In Deutschland bringen sich Männer circa viermal häufiger um als Frauen, und für die Pubertät gibt es Zahlen, dass sich Jungen bis zu zehnmal mehr selbst töten als Mädchen. Die Säuglings- und Kindersterblichkeit von Buben ist um ein Vielfaches höher als die von Mädchen. Seit geraumer Zeit wissen wir, dass das angeblich starke Geschlecht in den Industrienationen circa sechs Jahre früher stirbt als das vermeintlich schwache. Wie wäre der weiblich-feministische Aufschrei, wenn es umgekehrt wäre?

Je mehr die Gesundheitsforschung den Mann zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Arbeit macht, desto deutlicher wird, wie krank Männer in Wirklichkeit sind und wie krankmachend auch die Bedingungen, unter denen Männlichkeit gelebt und exerziert werden muss. Trotz solcher Erkenntnisse ändert sich nichts. So stellt sich auch die Politik stur und verweigert den Männern zum Beispiel einen Gesundheitsbericht, den es für Frauen schon lange gibt.

Selbst wenn männliche Machtpositionen stellenweise noch stabil sein mögen, wird man sich heute nicht an der empirischen Tatsache vorbeilavieren können, dass die Lebensqualität von Männern in den vergangenen Jahren stark abgenommen hat. Beratungsstellen für Männer im deutschsprachigen Raum machen zum Beispiel auf folgende Defizite aufmerksam: Männer haben wachsende Schwierigkeiten in Beziehungen und Familien; Männer vermissen gerechte Regelungen beim Sorgerecht (hier gibt es dramatische Nöte von Vätern, die ihre Kinder nicht mehr sehen dürfen, ohne dass gesellschaftliche Institutionen diese Nöte auch ernst nehmen); Männer vermissen wirkliche Freundschaften und soziale Netze; Männer klagen über emotionale Probleme; Männer leiden zunehmend an Impotenz – allein in Deutschland sechs Millionen.

Zum Zeitgeist gehört inzwischen, Männlichkeit nur noch mit den negativen Assoziationen von Gewalt, Krieg, Naturzerstörung, sexueller Belästigung und Missbrauch zu verbinden. Auch einstmals positive Qualitäten von Mannsein werden mittlerweile gesellschaftlich umgedeutet. So wird zum Beispiel aus männlichem Mut Aggressivität. Unbedacht bleiben so zum Beispiel die verheerenden Folgen für die männliche Identitätsbildung von Buben und jungen Männern. Zusammenhänge eines negativen Bildes von Männlichkeit und männlicher Verwahrlosung, Suchtanfälligkeit, Gewalttätigkeit, Kriminalität oder Schulversagen werden in Deutschland nicht thematisiert. Die Forschung zu dieser Entwicklung aus dem angloamerikanischen Sprachbereich spricht bereits von einer öffentlichen „Verachtung der Männer“ und – parallel zur Misogynie – von der gezielten Ausbreitung der Misandrie, der Männerfeindlichkeit.

Schließlich wird man sich Gedanken über die Vaterrolle machen müssen. Die Kulturkritik weist darauf hin, dass die Bedeutung des Vaters in den vergangenen fünf Jahrzehnten systematisch abgenommen hat. Dazu beigetragen hat vor allem auch eine radikalfeministische Denunziation des Vaters als bloßer „Samenspender“. Es fehlt ein positives Leitbild des Vaters.

Im Gegensatz zu einer stark veränderten Sozialisation für Mädchen ist die Sozialisation von Jungen weithin traditionell geblieben. Frühzeitig wird der Junge in ein gesellschaftliches Korsett von Männlichkeit gepresst. Die Sozialisations- und Männerforschung belegt im Rückgriff auf Untersuchungen aus unterschiedlichen Feldern, dass Buben unerbittlich auf Leistung und Erfolg getrimmt werden. Dazu gehört umgekehrt, dass ihnen Körperkontakte und Zärtlichkeit früh abtrainiert werden, dass sie eigene Probleme schon in einem Alter lösen sollen, in welchem sie dazu noch gar nicht fähig sind und dass sie zu einer männlichen Autarkie angehalten werden, die Beziehungsfähigkeit, Freundschaft und soziale Netze zu tertiärer Lebensbedeutung herabstuft. Identitätsstiftende und tragende Qualitäten wie Introspektion, Einfühlungsvermögen und soziales Verhalten werden in der männlichen Sozialisation nach wie vor vernachlässigt. Stattdessen werden Jungen frühzeitig auf veräußerlichte, gesellschaftliche Erfolgsziele festgelegt, die die meisten von ihnen aber gar nicht erreichen können. Insofern ist ein Syndrom von Versagen, Frustration und Ärger programmiert.

Die direkten Folgen dieser Sozialisation sind ein eingeschränktes Gefühlsleben und die Homophobie. Bei der Homophobie handelt es sich um die männliche Angst vor der Nähe zu anderen Männern. Auch hier dominiert die Furcht, für weiblich, weich, unmännlich und damit für schwul gehalten werden zu können. Im Vordergrund der homophobischen Abwehr steht jedoch das Konkurrenzverhältnis zu anderen Männern. Das ist auch der Grund dafür, dass Männer kaum Freundschaften zu anderen Männern aufbauen. Beschönigend wird dann von Einzelgängern gesprochen und von Steppenwölfen, wie sie etwa Hermann Hesse beschrieben hat oder in der härteren Version Ernest Hemingway, und auch edle Männergestalten wie etwa ein Dr. Rieux in Camus’ „Die Pest“ sind Einzelgänger. So wie der Amokläufer von Emsdetten – in der negativen Ausformung. Seine Mitschüler berichten, dass er in seiner ganzen Schulzeit nie mit anderen gesprochen habe.

Umgekehrt erleben Jungen die Erziehungseinrichtungen mit all den Lehrerinnen, Erzieherinnen, Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen als Fortsetzung der häuslichen Mutter-Dominanz. In Kindergärten, Horten, Ganztagseinrichtungen, Schulen und Beratungsinstanzen stoßen sie ständig an weibliche Verhaltensmuster und Grenzsetzungen. In ihrer Motorik und Renitenz drücken sie dann häufig ihren Widerstand gegen die Erziehungseinrichtungen als weibliche Bastionen aus. Dieser Widerstand wurde inbesondere auf feministischer Seite nie verstanden und fälschlicherweise als männliches Dominanzverhalten ausgelegt.

Jungen und Heranwachsende können mit der veränderten Situation von Männlichkeit oft nur hilflos umgehen. Der Erziehungspsychologe William Pollack weist in seinem exzellenten Buch „Richtige Jungen“ darauf hin, dass Buben frühzeitig in die Welt hinausgeschickt werden, um sich männlich zu bewähren. Allerdings werde ihnen dafür nicht das Rüstzeug mitgegeben; es fehle ihnen ebenso sehr an innerer Souveränität wie an sinnvollen Strategien, mit der Mitwelt umzugehen.

Eine Folge ist, dass Jungen und Jugendliche sich an Zerrbildern männlicher Stärke aus Fernsehen, Film und Videos orientieren, um ihre tatsächliche Unsicherheit zu verbergen. So wird zur Gewalt gegriffen, wo eigentlich Schwäche herrscht. Ein anderer Kompensationsmechanismus ist die Flucht in virtuelle Welten. Dort wird in der Identifikation mit fremden oder eigens geschaffenen Figuren kompensiert, was in der realen Welt von Familie, Schule und Ausbildung nicht mehr an tatsächlicher Befriedigung erreicht werden kann: Versager in der Wirklichkeit, Held in der Fantasie. Beide Mechanismen haben in Emsdetten zur Katastrophe geführt.

Sozialpolitisch, sozialpädagogisch und vor allem gleichstellungspolitisch – denn da werden die Weichen gestellt – ist das männliche Geschlecht heute in Deutschland das vernachlässigte Geschlecht. Es fehlt für junge Männer das reichhaltige Angebot, das Frauen an Informationen, Bildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen, Identitäts- und Veränderungsarbeit, Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung und Selbstentwicklung zur Verfügung steht. So sind junge Männer fast ausschließlich auf private und zumeist teure Dienstleistungen von Pädagogen, Therapeuten, Körper- und Bewegungsarbeitern angewiesen.

Die Einseitigkeit deutschsprachiger Gleichstellungspolitik als Frauenpolitik zeitigt inzwischen auch manifeste kontraproduktive Tendenzen für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung.

Die aktuelle Shell-Studie hat soeben dokumentiert, dass der Familien- und Kinderwunsch bei jungen Frauen massiv höher ist als der bei jungen Männern. Als Grund dafür werden die gesellschaftlich unbearbeiteten Rollenkonflikte von jungen Männern angeführt.

Das zweite Beispiel betrifft die wachsende Frustration von Männern, die sich zunehmend gewalttätig äußert. Auch der seit langem bekannte Zusammenhang von Rechtsextremismus und brüchiger Männlichkeit wird von der deutschen Politik nicht wahrgenommen; dementsprechend hilflos sind die immer wieder neu aufgelegten „Programme gegen rechts“.

Es ist erstaunlich, dass in einem Staatswesen, das ansonsten alles in ökonomischen Kategorien misst, die „Männerfrage“ nicht auch einmal berechnet wird. 95 Prozent der Insassen in den deutschen Haftanstalten sind männlich. Delikt-, Unfall- und Kriminalstatistiken ergeben dementsprechend eine eindeutig männliche Dominanz. Trotz dieser drastischen Augenscheinlichkeit werden diese geschlechtsspezifischen Tatbestände bisher praktisch nicht zur Kenntnis genommen. Dementsprechend ignoriert man auch die Notwendigkeit von Prävention. Dabei belasten die genannten Delikte zunehmend die öffentlichen Haushalte. Bei der 6. Gleichstellungskonferenz der Bundesregierung in Bonn sind die Gesamtkosten männlicher Delikte auf mehr als 15 Milliarden Euro pro Jahr beziffert worden.

Was tun? Es wäre nötig, die geschilderten Tatbestände überhaupt einmal als Problemfeld wahrzunehmen. Dazu gehört die banale, aber offenbar tabuisierte Einsicht, dass auch Männer ein Geschlecht haben. Diese Erkenntnis gälte es in Politik für Männer umzusetzen. Dazu würde zum Beispiel die öffentliche Unterstützung von Männer- und Jungenprojekten gehören. Das alles enthebt Männer selbstverständlich nicht der individuellen wie kollektiven Notwendigkeit, selber etwas für die eigene Veränderung zu tun.

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