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Merkel und Europa: Es geht ums Ganze

Wer den Euro will, muss jeden Winkel Europas reformieren, manche gar revolutionieren. Angela Merkel muss diese Politik nach Kräften befördern. Sie steht vor einer grundsätzlich neuen Prioritätensetzung ihrer Agenda.

Sie ist abwartend, austarierend, konsensfixiert. So heißt es über Angela Merkel. Viele vermissen Führung, Prinzipien, die klare Kante. Nun kann keiner aus seiner Haut, auch eine Kanzlerin nicht. Und es ist längst nicht ausgemacht, ob ihre Um- und Vorsicht dem Land in der doppelten Krise (erst Weltwirtschaft, dann Europa) nicht mehr genützt als geschadet haben. Hätte sie auf den Rat impulsiverer Menschen gehört – etwa dem Drängen von US-Präsident Barack Obama nachgegeben –, wäre Deutschland heute erheblich verschuldeter, als es ohnehin ist. Hätte sie bereits am Anfang des Griechenlanddebakels geholfen, wären deutsche Steuergelder eingesetzt worden, als der Internationale Währungsfonds noch nicht beteiligt war und sich Athen noch nicht auf einen strikten Sparkurs verpflichtet hatte.

Nein, es gehört zum Drama dieser Zeit: Die doppelte Krise ließ Merkel oft nur die Wahl zwischen falsch und verkehrt. Hinzu kam eine diffuse Faktenlage. Über die Höhe der Konjunkturprogramme stritten die Experten nicht minder, als sie sich akut entzweien über die Frage, wie viel Geld Europas Rettung kostet, wenn sie denn überhaupt möglich ist. Alternativlos tanzen wir auf dem Vulkan. Und ausgerechnet Merkel, die in überschaubaren Situationen perfekt agieren kann, sieht sich in den bedrohlichen Raum des Nichtrückversicherbaren gestellt. Es geht um Milliardensummen, jeder Fehler kann verheerende Folgen haben. Wer die Last von Verantwortung kennt, weiß, wie einsam sie machen kann.

Umso wichtiger ist ein innerer Halt, ein Kompass, ein Wertesystem. Es gibt akzidentielle und substanzielle Charaktereigenschaften. Zu Merkels politischem Wesenskern gehört zweifellos der Kampf gegen den Klimawandel, für Menschenrechte, für das Existenzrecht Israels. Jetzt aber muss sie zeigen, dass auch das Megaprojekt Europa dazu zählt. Dass sie in einer Reihe stehen will mit Konrad Adenauer, Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Dass sie die Krise der Europäischen Union als Ansporn empfindet, die politische und wirtschaftliche Einigung des Kontinents voranzutreiben.

Jeder Deutsche spürt plötzlich, dass die Stabilität seiner Währung auch von Entscheidungen abhängt, die in Griechenland, Spanien und Portugal getroffen werden. Er haftet für die Schulden anderer. Der Euro zwingt ihn in diese Haftungsgemeinschaft. Sie funktioniert aber nur, wenn kein Glied der Gemeinschaft tut und lässt, was es will, sondern wenn alle EU-Länder verbindliche Sanierungs-, Stabilitäts- und Sparvorgaben einhalten. Der Erfolg des Euro verdeckte lange Zeit die Misserfolge Europas. Jetzt reift die Erkenntnis: Wer den Euro will, muss jeden Winkel Europas reformieren, manche gar revolutionieren.

Merkel muss diese Politik nach Kräften befördern. Sie steht vor einer grundsätzlich neuen Prioritätensetzung ihrer Agenda. Dabei hat eine innere Selbstverpflichtung auf Europa nichts mit Dogmatismus und Distanzlosigkeit zu tun. Merkel soll nicht Sarkozy imitieren. Nur ehrlich, radikal und gerecht muss sie sein. Ehrlich heißt: Schweiß und Tränen, auch in Deutschland; radikal heißt: Finanzmärkte regulieren, Haushalte konsolidieren; gerecht heißt: Wer spart, dass es kracht, muss auch die Erbschaftsteuer erhöhen. Politik braucht ein Mandat. In der tiefsten Krise Europas seit dem Mauerbau steht das Mandat für die anstehenden Großaufgaben der Bundesregierung nicht in Koalitionsverträgen, sondern findet sich woanders – in der brutalen Härte der Realität.

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