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Angela Merkel hat "das Jahr 2050 im Blick".

© Reuters

Merkels Welt: Atom und Revolution

Die Rechnung der von Kanzlerin Merkel verkündeten Energierevolution kann eigentlich nur aufgehen, wenn man sich das Volk daraus wegdenkt. Dazu braucht man nur vier große Energiekonzerne. Ein Kommentar.

Ach, nur das grüne Ampelmännchen und der Rotkäppchensekt haben im neuen Deutschland ihren Platz gefunden. Längst ahnen wir, dass sich die West- von den Ostdeutschen die eine oder andere Scheibe mehr hätten abschneiden sollen. Wie heikel Karrieren von Personen, Produkten, Begriffen ostdeutscher Herkunft indes sind und bleiben, weiß niemand besser als unsere Bundeskanzlerin. Sie hat ihren Weg mit einer Fähigkeit zur Subversion gemacht, die in dieser Ausprägung nur bei Unterdrückten entstehen kann. Erst eine Frau und dazu eine aus der repressiven DDR konnte einen Machtwillen entfalten, den alle männlichen Konkurrenten zu spät erkannt und mit ihren gewohnten, also untauglichen Mitteln bekämpft haben.

Könnte es sein, dass Angela Merkel neue Herausforderungen sucht, weil diese Konkurrenz praktisch erledigt und Politik für einen Machtmenschen ihres Ranges deshalb irgendwie langweilig geworden ist? Unerklärlich war vielen Beobachtern bis zum vorgestrigen Tag, wie hoch vergnügt sich die Regierungschefin einer schwer ramponierten Koalition vor einigen Wochen in die Sommerpause verabschiedet hat.

Seit Montag sind wir klüger. Sie schmiedet größere Pläne. Beim ersten absehbaren großen Auftritt nach der Sommerpause, der Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke, präsentierte sich Merkel, vormals Kanzlerin der kleinen Schritte, als Visionärin neuen Zuschnitts, die „das Jahr 2050 im Blick“ und „nicht mehr und nicht weniger als eine Revolution“ der Energieversorgung verkündet hat. Es handelt sich allerdings, und hier zeigt sich die alte Meisterin der subversiven Durchsetzungstaktiken, um einen weltgeschichtlich bisher unbekannten Entwurf, nämlich um „eine Revolution, die planbar wird“ . Und damit womöglich um eine, die man sogar den Deutschen verkaufen kann?

Weil auch vom „Fahrplan“ mehrfach die Rede war, hat Merkel ihren marxistisch halbgebildeten Zuhörern, von denen es in Ost und West viele gibt, den Gedanken an Lenin geradezu aufgedrängt. Der hat gesagt, dass die Revolution in Deutschland nie etwas wird, weil die Deutschen sich erst eine Bahnsteigkarte kaufen, wenn sie den Bahnhof stürmen wollen. Plant die vorsichtige Merkel eine Revolution, deren Teilnehmer sich vorher eine Bahnsteigkarte kaufen können? Oder schwebt ihr, demokratietheoretisch verwegen, eine Revolution vor, die deshalb klappt, weil die Deutschen an ihr gar nicht teilnehmen müssen und sollen?

Dieser Gedanke, auf den geschulte Dialektiker sofort kommen, leuchtet ein. Die Rechnung der von Merkel verkündeten Energierevolution kann eigentlich nur aufgehen, wenn man sich das Volk daraus wegdenkt. Dazu braucht man nur vier große Energiekonzerne, die an Bahnsteigkarten nicht interessiert sind. Ihnen reichen unverbindliche Freibriefe, die bis ins Jahr 2050 die Frage offen halten, ob und wo in Deutschland dann immer noch Atomenergie erzeugt wird.

Ach, Merkel hätte sich merken sollen, wie gründlich die Ostdeutschen Lenin mit ihrer friedlichen Revolution widerlegt haben. Stattdessen ist ihr nur gelungen, die Grundstimmung gegen die Atomenergie neu aufzuladen. Denn sie hat den Verdacht genährt, dass die Energiewirtschaft mehr zu entscheiden hat als die gewählte Regierung oder das Volk. Die planbare Revolution wird es nicht geben, aber eine heftige, unberechenbare Kontroverse mit demokratischen Mitteln, zu denen Demonstrationen gehören oder der Gang zum Verfassungsgericht.

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