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Meinung: Merkels zweite Chance

Der Souverän hat gesprochen, er will Schwarz-Gelb – und damit Reformen. Doch kann die Kanzlerin des Ungefähren den hohen Erwartungen gerecht werden?

Die deutsche Wahl erinnert an eine alte Regel aus Kindheitstagen: Ein Wunsch, der in Erfüllung gehen soll, darf auf keinen Fall ausgesprochen werden. Also wird die Münze in den Brunnen geworfen oder die Wimper in den Wind geblasen – aber der Wunsch nur leise ins eigene Innere gehaucht. Was zu laut tönt, erschreckt die guten Geister.

Die Deutschen standen am Sonntag vor einer Richtungsentscheidung. Wollten sie die Fortsetzung der großen Koalition? Oder wollten sie ein schwarz-gelbes Reformbündnis aus Union und FDP? Um nichts anderes ging es. Jede Parteienkombination, durch die SPD-Kandidat Frank-Walter Steinmeier hätte Kanzler werden können, war entweder von der SPD selbst (Bündnis mit der Linkspartei) oder den Liberalen (die Ampel) ausgeschlossen worden.

Das Votum des Souveräns war deutlich. Nach elf Jahren konnte die strukturell linke Mehrheit (aus PDS/Linkspartei, SPD und Grünen) gebrochen werden. Die neue Regierung unter Angela Merkel hat nun ein klares Mandat, eine klare Mehrheit und ist stabil. Das interne Kräfteverhältnis indes täuscht ein wenig. Viele Stammwähler der CDU haben aus taktischen Gründen für die FDP gestimmt, um ein Signal gegen die große Koalition zu setzen.

Dennoch wirkt Schwarz-Gelb wie ein Zufallsprodukt. Merkel und FDP-Chef Guido Westerwelle haben zwar stets beteuert, füreinander wie geschaffen zu sein, aber nie genau begründet, warum. Insbesondere Merkel hat im Wahlkampf Begriffe wie „Reformen“, „konservativ“ oder „marktliberal“ gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Die bittere Erfahrung aus dem Jahr 2005, als ihr der Vorwurf, eine kaltherzige, neoliberale Politik anzustreben, fast das Genick brach, sitzt ihr in den Knochen. Ihre Lehre daraus: Je intensiver du Schwarz-Gelb willst, desto leiser musst du darüber sprechen.

So geschah es. Opposition und ein Teil der Medien beschwerten sich heftig über den langweiligen, inhaltslosen, konturenlosen Wahlkampf, den Merkel ganz bewusst so inszeniert hatte. Kanzlerbonus plus fehlende Angriffsfläche: Das reichte. Ihr Kalkül ging auf.

Was aber will Merkel? Schlummert in ihr eine Frau mit Gestaltungswillen, Sendungsbewusstsein und Tatkraft? Oder will sie auch in Zukunft nur eines – überleben? In der großen Koalition hatte Merkel es leicht. Mit zerknirschter Miene konnte sie jeden Kompromiss mit der Botschaft verbinden: Wäre ich nicht in dieser ungeliebten Koalition gefangen, könnte ich ganz anders sein, reformfreudiger, konservativer, weniger sozialdemokratisch. Künftig fehlt ihr diese Ausrede. Jetzt muss sie zeigen, was wirklich in ihr steckt. (...)

Vor vier Jahren war Merkel weiter als die Mehrheit der Deutschen. Sie sah die Notwendigkeit, angesichts einer rapide alternden Bevölkerung die sozialen Sicherungssysteme radikal zu reformieren. Sie erkannte, dass trotz der Agenda 2010 das Land eher noch einen Nachholbedarf an Brutalitäten hatte, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Knüpft die Kanzlerin jetzt an ihre Einsichten aus dieser Zeit an – oder ist diesmal die Mehrheit der Deutschen weiter als Merkel? Das ist die entscheidende Frage.

In historischer Perspektive wäre diese Rollenverteilung zwischen womöglich zaudernder Politik und den sie treibenden Kräften aus dem Volk ungewöhnlich. Denn in Deutschland gab meist die Politik den gesellschaftlichen Takt vor. Ob Westbindung, Nato-Mitgliedschaft, Ostpolitik, Nachrüstung oder Einführung des Euro: Gegen eine Mehrheitsstimmung taten mutige Politiker, was sie im Interesse des Landes für richtig hielten. Diesmal steht Merkel unter Druck, das leisten zu müssen, was eine überraschend reformfreudige Bevölkerungsmehrheit von ihr erwartet. Es wird auch die Funktion der FDP in der Koalition sein müssen, die Union ständig daran zu erinnern, ein schwarz-gelbes Mandat erhalten zu haben. Der Wähler wollte ein Ende der großen Koalition. (...)

Die große Verliererin der Wahl ist die SPD. Ihr Ergebnis ist ein Debakel. Und das Schlimmste daran: Das hat kaum etwas mit ihrem Spitzenpersonal zu tun, sondern liegt an ihrer politischen Identitätsentkernung. Aus der Partei heraus kommt nichts mehr, was die Menschen bewegt oder überzeugt. Fehlt ihr ein Feindbild (1998: Helmut Kohl, 2002: George W. Bush und der Irakkrieg, 2005: das Schreckgespenst einer neoliberalen Merkel-Politik), dann reproduziert sie ein altes, aber verstaubtes (Schwarz-Gelb verhindern!).

Inhaltslos treibt sie keinem Ziel entgegen. Die Zukunftsthemen Klima und Familie hat Merkel geschickt für sich reklamiert. Die kulturelle Linke (Umweltschutz, Frauenbewegung, Homo-Ehe, Einwanderung) tummelt sich bei den Grünen, die Umverteilungsdogmatiker haben in der Linkspartei ihre neue Heimat gefunden. Mehr als das nostalgische Gefühl, seit 146 Jahren irgendwie immer das Gute gewollt zu haben, bietet die SPD nicht mehr. Überdies lasten auf ihr die beiden Erbsünden Krieg (Kosovo, Afghanistan) und Radikalreform (Agenda 2010).

Ihr einziger Trost: Nirgendwo in Europa sieht es für die Sozialdemokraten besser aus. Die französischen Sozialisten hat Nicolas Sarkozy zerschlagen, die italienischen Silvio Berlusconi, Gordon Browns Tage in Großbritannien dürften ebenfalls gezählt sein. Auf die doppelte Herausforderung der vergangenen Jahre – Modernisierungsdruck durch Globalisierung plus erhöhte Bereitschaft zur militärischen Intervention wegen des internationalen Terrorismus – waren Europas Linke nur ungenügend vorbereitet.

Zum Abschluss von SPD-Parteitagen singen die Genossen stets das Lied: „Mit uns zieht die neue Zeit“. In Wahrheit ist die neue Zeit längst an ihnen vorbeigezogen, auf der Überholspur.

Dieser Text (gekürzte Fassung) erschien zuerst im „Wall Street Journal Europe“. Copyright (c) 2009, Dow Jones & Company, Inc.

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