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Missbrauch an Schulen: Gefährlich nah

Ganz egal, wie pädagogisch verbrämt der Missbrauch daherkommt: Dahinter steht immer ein Machtverhältnis. Reformpädagogik funktioniert auch ohne dass sich ein Lehrer von seinem Schüler sexuell befriedigen lässt, so wie auch emotionale und körperliche Nähe herstellbar ist, ohne einem Kind die Genitalien zu streicheln.

Nähe ist ein Lebensmittel, kein Missbrauch – mit diesen Worten eröffnete der Schriftsteller Adolf Muschg am Montag in dieser Zeitung den bizarren Bereich der Debatte über sexuelle Nötigung von Schülern durch ihre Lehrer. Muschg, früher selbst Lehrer, heute Mitglied der Akademie der Künste, verteidigt die Vorfälle an reformpädagogischen Schulen als quasi selbstverständlichen Teil einer befreiten Erziehung. Anders als die Kirche müsse die Reformpädagogik heute deshalb keine doppelte Moral rechtfertigen. So brauchte der ehemalige Leiter der Odenwaldschule, Gerold Becker, der heute jahrelanger sexueller Übergriffe beschuldigt wird, laut Muschg damals „seine Neigungen, die jetzt am Pranger stehen, nicht zu verleugnen“.

War das wirklich so, in den siebziger, achtziger Jahren? Wussten die Eltern der Odenwaldschüler, was der Leiter des Internats mit ihren Kindern treibt?

In der Reformstimmung nach ’68 fielen jedenfalls sexuelle Tabus; noch bis 1973 waren homosexuelle Beziehungen unter Erwachsenen ja strafbar. In dieser Zeit gründeten sich auch Gruppen von Pädophilen, die ebenfalls auf Reformen des Strafrechts zu ihren Gunsten hinwirkten. Diskutiert wurden wissenschaftliche Arbeiten, in denen sexuelle Handlungen von Erwachsenen an Kindern als harmlos dargestellt werden. Mitte der achtziger Jahre beschloss der nordrhein-westfälische Landesverband der Grünen, dass Sex mit Kindern „für beide Teile angenehm, produktiv, entwicklungsfördernd“ sei, weswegen das Strafgesetzbuch geändert werden müsse. Noch zu Beginn des Jahres 2000 gab es in der Humanistischen Union eine wichtige Gruppe, die von einer „kreuzzugartigen Kampagne“ gegen Pädophilie sprach. Und Muschg sieht heute ein „Hexengericht“ am Werk. Der Paradigmenwechsel in Bezug auf Sexualität könne auch „Restauration von Barbarei bedeuten, null Toleranz, die Machtergreifung der Fantasielosigkeit“.

Große Worte. Dabei geht es damals wie heute um nichts anderes – und auch nicht um mehr – als den Schutz von Kindern vor Erwachsenen, die sie seelisch und körperlich manipulieren. Denn ganz egal, wie pädagogisch verbrämt der Missbrauch daherkommt: Dahinter steht immer ein Machtverhältnis. Jede noch so sehr behauptete Gleichberechtigung ist asymmetrisch, jede vermeintliche Einvernehmlichkeit folgenreich. Es lindert den seelischen Schmerz eines Opfers nicht, wenn die Tat nachträglich zeitgeistig, erziehungswissenschaftlich oder gesellschaftlich gerechtfertigt wird.

Reformpädagogik funktioniert auch ohne dass sich ein Lehrer von seinem Schüler sexuell befriedigen lässt, so wie auch emotionale und körperliche Nähe herstellbar ist, ohne einem Kind die Genitalien zu streicheln. Sie funktioniert sogar ohne die antiindividualistische Anmaßung, Kinder zu einer genormten „freien“ Sexualität durch Gruppendruck zu zwingen, wie es in den oft haltlosen, verwirrenden Jahren des antiautoritären Aufbruchs vielfach üblich war. Hartmut von Hentig, wichtigster deutscher Reformpädagoge und Lebensgefährte des ehemaligen Odenwald-Schulleiters Becker, verweigert sich der Diskussion. Dabei ist die große Idee der Reformpädagogik akut gefährdet – aber nicht durch die Aufklärung der sexuellen Entgrenzung und ihrer Folgen, die von Muschg und anderen als Kampagne diffamiert wird, sondern durch die Sturheit, mit der Hentig und andere unangenehme Erkenntnisse unter dem Hinweis auf einen „pädagogischen Eros“ verteidigen. So wird auch noch das Wort Nähe missbraucht.

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