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Meinung: Mit aller Seelen

Von Roland Freudenstein WO IST GOTT? Ich bin Protestant, und seit ich in Polen lebe, weiß ich auch, wogegen wir seit 500 Jahren protestieren.

Von Roland Freudenstein

WO IST GOTT?

Ich bin Protestant, und seit ich in Polen lebe, weiß ich auch, wogegen wir seit 500 Jahren protestieren." Das habe ich zu ihnen gesagt. Viele Male, zu alten Mütterchen und bibelfesten Bischöfen, zu frömmelnden Jungaktivisten und behäbigen Dorfpriestern. Immer wenn mir der polnische Klerikalismus zu bunt wurde, wenn die erstarrten Rituale alles zu erdrücken drohten, wenn „Du sollst nicht denken!“ das 1. Gebot zu sein schein. Es war meine Lieblingsprovokation, als ich in Polen lebte.

Manche waren schon tief getroffen, wo sie doch so stolz sind auf ihren polnischen Papst. Und sich so bedroht fühlen von der Kirchenferne und dem Individualismus, den sie in Westeuropa allenthalben entdecken. Meine gesamten sechseinhalb Jahre in Polen rang ich mit dieser spezifischen Mischung aus Gott und Vaterland. Nicht dass ich all das als primitiven, womöglich gefährlichen Nationalismus abgetan hätte, wie das bei manchen unserer Intellektuellen üblich ist. Sondern weil ich es doch lieber mit jenen Polen hielt, die ihr Land modernisieren wollen, denen dabei manche Vorbilder aus dem Westen ganz recht sind und die in den letzten anderthalb Jahrzehnten auch schon weit damit gekommen sind.

Das war die eine Seite der Medaille. Es gab aber auch eine andere, die man am besten zu Allerheiligen spürte. Zum Beispiel auf dem nationalen Heldenfriedhof, Powazki, im Norden Warschaus. Kurz vor dem 1. November macht sich das ganze Land auf den Weg, um die jeweiligen Familiengräber aufzusuchen. Da kann sich kein Pole ausklinken. In allen Städten werden Sonderbusse eingesetzt (national beflaggt), vor dem Friedhof gibt es Blumen, Kränze und patriotische Literatur. Tagsüber putzt man die Gräber auf, und wenn die Dämmerung kommt, dann werden die Lichter angezündet. Hunderte, Tausende von Grablichtern. Auf Powazki ist das ein richtiges Lichtermeer, die Leute stehen dicht gedrängt und sind ganz still, flüstern höchstens. Plötzlich spürt man die Novemberkälte gar nicht mehr. Protestantismus hin und Ratio her – wer da nicht schlucken muss, der ist nicht von dieser Welt. Und wer Gott sucht, der hat hier eine gute Chance.

Natürlich hat das mit dem „anything goes“ solcher Orte wie Berlin, Prenzlauer Berg, wo ich seit zwei Jahren lebe, sehr wenig zu tun. Und natürlich lobe ich mir meine Off-Videothek um die Ecke, die Ethno-Restaurants und die allgemeine Kinderfreundlichkeit. Aber ich sehe auch die Wurschtigkeit, das Rumjammern, das Rauchen in der U-Bahn und das prinzipielle Nichtbeachten roter Ampeln durch Radfahrer. Die Kleinkriminalität, die Spritzbestecke der Drogenabhängigen auf den Kinderspielplätzen. Die Abwesenheit unverzichtbarer Spielregeln, wenn man so will. Allerheiligen? Fehlanzeige.

Bin ich jetzt klammheimlich konvertiert? Nein, das nicht. Vor Allerheiligen kommt immer noch der Reformationstag. Das ist eine gute Nachricht. Ein Evangelium also.

Der Autor arbeitet bei der Konrad-AdenauerStiftung und war von 1995 bis 2001 deren Büroleiter in Warschau. Der zweite Jahrgang dieser Kolumne liegt jetzt als Buch vor: Wo ist Er jetzt? Weitere Antworten auf die Frage „Wo ist Gott?“, Evangelische Haupt-Bibelgesellschaft, Berlin 2003, ISBN 3-7461-0192-1.

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