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Meinung: Mit dem Regenschirm gegen den Tsunami?

Die klassische Mitbestimmung in Deutschland ist tot – nicht erst nach den jüngsten Korruptionsskandalen

Man muss nicht Gewerkschaftsmitglied sein, um dem Gewerkschaftsgedanken etwas abringen zu können. Trotzdem knirscht es im partizipationsorientierten Deutschland. Ist die „alte“ Mitbestimmung tot? Die Antwort hängt davon ab, wen man fragt. Die notorischen Engelen-Kefers zetern im Jargon der selbstgefälligen Sozialapparatschiks. Droht die Schwächung der Mitbestimmung und damit der neoliberale „Burn-out“ des Sozialstaates? Da man, wie Friedrich Merz sagte, nicht die Frösche fragen soll, wenn man einen Sumpf trocken legen will, geht die Frage zunächst an die Störche.

Aus der Sicht des Kapitalmarktes spielt die Mitbestimmung keine Rolle. Wie überhaupt für das Geschehen rund um die Börsen und die großen privaten Vermögen das konkrete Unternehmen keine echte Rolle mehr spielt. Spätestens mit dem Auftauchen der „Hedge-Fonds“ haben auch die Rheinischen Kapitalisten gelernt, dass man auf den Kapitalmärkten an allem, sprichwörtlich an allem, verdienen kann – auch am wirtschaftlichen Untergang eines Unternehmens, einer Branche, einer Währung, eines Landes. Hier herrscht, so einfach ist das, Handel – und Händlern war der konkrete Gegenstand, der sich vorübergehend in ihren Händen befindet, schon immer ziemlich gleichgültig.

Rendite-Erwartung, die höchste Form bürgerlichen Genussstrebens, ist etwas sehr Abstraktes. Wird das Verzinsungsinteresse mit den Kalamitäten des wirklichen Lebens konfrontiert, etwa der Mitbestimmung als „Problem“, lässt es seinen Blick wandern und auf ein neues Objekt der Begierde fallen. Das Kapital hat keine Heimat. Der Gedanke an eine volkswirtschaftliche Monogamie oder gar an Patriotismus ist vollständig überholt, wenn er denn je richtig war.

Man hat versucht, das abstrakte Wesen des Kapitals zu verklären. Der „Shareholder Value“ als Leitwert von Aktionären wurde im Konzept des „Stakeholder Value“ von Sozialromantikern bis zur Unkenntlichkeit garniert. Dabei traten dann auch die Mitarbeiter eines Unternehmens in den Kreis legitimer Interessenten ein. Selbst der Natur wurde diese Teilhabe zugebilligt. Mit dem abgeklärten Blick unserer Tage bemerkt man, dass hier das rot-grüne Paradigma sein Haupt hob: Sozial sollte er sein, der Kapitalismus, und ökologisch auch. Übergreifender formuliert geht es immer wieder um den Widerspruch von „bösem“ Kapitalismus einerseits und einer „guten“ Partizipationskultur andererseits. Und die entwickelte sich zügig von der Rheinischen Sozialen Marktwirtschaft bis zum Bündnis für Arbeit, mit Rotwein und Abendessen im Kanzleramt.

Die Ruder der Politik, hat ein kluger Politiker unserer Tage gesagt, reichen nicht mehr ins Wasser. Ein zutreffendes Bild. Die Gewinner der modernen Regatten sind keine Galeeren mehr, sie segeln hart am Wind und wissen zu kreuzen. Also geht es um die Ungleichzeitigkeit der globalen Entwicklung. Darf man die Menschen des Landes der Globalisierung überlassen? Wie wird zumindest ein Teil der Veränderungsverlierer Teilnehmer am Veränderungsprozess? Wie können die Gewerkschaften als Organisation der Arbeitsplatzbesitzer die Vernichtung ihres eigenen Existenzgrundes aufhalten?

Alle großen Organisationen neigen zur Selbsterhaltung durch tendenzielle Realitätsverleugnung. Aber es fährt sich schlecht mit dem ständigen Blick in den Rückspiegel. Bei genauer Betrachtung sieht man eine unterschiedliche innere Intelligenz der einzelnen Gewerkschaften in dieser Frage. Oft kämpft das Vorgestrige mit dem Gestrigen um das Heute. Vom Morgen reden die Gewerkschaften selbst noch zu selten. Intellektuell redliche Vordenker scheinen zu fehlen.

Wenn die Beziehung von Unternehmensleitung und Arbeitnehmervertretern nicht mehr von Klassenkampf bestimmt ist wie im Manchester-Kapitalismus des frühen 19. Jahrhunderts, und nicht mehr vom patriarchalischen Inhaberbetrieb des späten 19. Jahrhunderts, wo sind dann die Perspektiven der „neuen“ Kooperation im 21. Jahrhundert?

Die Betriebsräte stehen wechselweise unter dem Vorwurf der Kollaboration und der Sabotage. Wie weit sollen, wie weit dürfen sie sich einlassen? Die „rheinische“ Verbrüderung von Kapital und Arbeit ist eine falsche Sozialromantik, mit der heute weder Kain noch Abel glücklich werden können. Den Widerspruch mit einer rhetorischen Sauce der vermeintlichen Partnerschaft „auf Augenhöhe“ zu übergießen, bringt nur vorübergehendes Wohlbefinden. Kapital und Arbeit sind zu keiner Neigungsehe geschaffen, sondern nur zu einem Zweckbündnis der verschiedenen Interessen. Dieses Bündnis braucht, wie die öffentliche Meinung nunmehr tagtäglich zeigt, einen sehr genauen und scharf formulierten Vertrag, um funktionieren zu können. Sozialpartnerschaft, wie die Freunde der Partizipationskultur ihre Träume nennen, kann nicht auf einem Bein stehen. Es gibt keine „volonté générale“, der sich beide Seiten Arm in Arm zu beugen hätten. Das Stehen auf zwei Beinen heißt aber, gegenläufige Interessen vertreten zu können und beiderseits kompromissbereit zu sein. Gerade deshalb ist ordnungspolitisch im betrieblichen Kontext wie auch im staatlichen Gemeinwesen Interessenvertretung auf das Sauberste von Regierung zu trennen. Die Lobby gehört in den Vorhof der Macht, nicht in ihre Mitte. Die harmoniebeseelten Allianzen aller Gutgläubigen in Kommissionen und Expertengremien sind ordnungspolitisch prekär. Sie sind, das wissen wir inzwischen, zudem politischer Sprengstoff.

Das paternalistische Modell der Neigungsehe von Kapital und Arbeit, geprägt vom Geissler-Blüm’schen „Herz-Jesu-Marxismus“, hat sich aus dem Zentrum auch der sozialpolitischen Diskussion herausbewegt. Man wird erproben müssen, ob nach der Entlarvung der sprichwörtlichen Steinkühler’schen Teilhabe an der Macht ein Modell der friedlichen Gegnerschaft tragfähig sein kann. Inwieweit die Gewerkschaften noch „prinzipiell“ glaubwürdiger Sachwalter der Arbeitnehmerinteressen bei Übernahmekämpfen sind. Die Betriebsräte sehen ihre Glaubwürdigkeit nunmehr von zwei Seiten erschüttert. Die gewerkschaftliche „Organisation“ als Zielvorstellung wird sich von der zentralistischen Tradition der Arbeiterbewegung lösen und mit Vorstellungen vom „Netzwerk“, „Lobbying“ und „Dienstleistung“ umgehen müssen. Den klaren tektonischen Formen folgen seltsame Gebilde – wie der klassischen Einehe die Patchwork-Familien gefolgt sind.

Unternehmen wie Volkswirtschaften sind nicht mehr als Galeeren zu führen, sondern nur noch als Segler hart am Wind. Solange es in Deutschland noch ein Ladenschlussgesetz gibt, haben wir von dieser Problematik nichts, gar nichts verstanden. Hätte das rot-grüne Projekt der „Reformierung“ statt mit der unseligen Arbeitsverwaltung und einer Kommission, die von politischer Realität nicht viel verstanden hat, auf dem Dienstleistungssektor und mit der Bürokratie begonnen, mit der Liberalisierung des Lebens, hätte es größere Aussicht auf Erfolg gehabt.

Es braucht für die Zukunft der Mitbestimmung eine Erbendiskussion. Das Erbe bewahren oder ausschlagen? Die Montanmitbestimmung ist historisch ein Teilhabemodell der westdeutschen Nachkriegsära, in der die einen noch „die Gruben in Volkes Hand“ sehen wollten und die anderen gerade der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft und den Gefängnissen der Alliierten entronnen waren. Die Einheitsgewerkschaft ist historisch eine Antwort auf die selbstzerstörerische Zersplitterung der Weimarer Republik. Die Kuratel von Flächentarifverträgen entspricht historisch dem sozialistischen Gedanken, dass nur eine einige Arbeiterschaft der erdrückenden Übermacht der Kapitalisten zu widerstehen weiß. Der geschichtliche Boden des Konzeptes der „Teilhabe“ ist ein sozialutopisches Modell. Alles vergangene Zeiten.

Ein Unternehmen kann sich auf die Erhaltung seiner (nationalen) Standorte so stark konzentrieren, dass dabei die Strukturschwäche Ostwestfalens mehr Gewicht bekommt als die Herausforderungen von Jiangsu in China. Wie diese Unzeitgemäßheit endet, kann man wissen, wenn man sieht, wie die Chinesen im Ruhrgebiet eine komplette Kokerei demontieren und mit viel Liebe in Holzkisten einpacken und verschiffen. Sie wird im Land der Mitte wieder Koks produzieren, den Rohstoff zur Verhüttung. Was im letzten Jahrhundert zart in Indien begann, wird wie ein Tsunami aus China kommen: die Welle einer prosperierenden Stahlindustrie.

Wir haben eine vaterländische Pflicht, die Gewerkschaften zu unterstützen bei ihren Bemühungen, aus dem 19. Jahrhundert ins 21. zu springen. Dabei wird sich die auf Massenstreiks orientierte Massenorganisation mit Dezentralisierung und dem Machtverlust des Kartells der Arbeitsplatzbesitzerbürokratie abfinden müssen. Die Vorgänge um die Bundesanstalt für Arbeit haben gezeigt, dass hier proportional besetzte Oligopole die Vergangenheit verwalten und sich von den Zukunftsaufgaben gänzlich unberührt zeigen: Hier liegt die Brücke von Engelen-Kefer zu Lafontaine. Im nationalen Interesse müssen die Gewerkschaften Möglichkeiten finden, die Belange ihrer Mitglieder so zu vertreten, dass sich auch deren Kinder und Kindeskinder darin wiederfinden. Eine tragfähige industrielle Entwicklung ist ohne Einbindung der Arbeitnehmer nicht denkbar. Hier muss man nicht nur vom moralischen Recht der Mitarbeiter reden, weil es auch und gerade um die Notwendigkeit einer kooperativen Situation für das Management geht. Ob zu der legitimen Interessenvertretung der Beschäftigten und einer strategischen Zusammenarbeit von Management und Belegschaft auch der gesamte Katalog der Montanmitbestimmung gehört, ist eine zugespitzte Frage, die das Thema verengt.

Wir müssen insgesamt darüber reden, ob das deutsche Zweistufenmodell von Aufsichtsrat und Vorstand dem angelsächsisch-amerikanischen Einstufenmodell nicht unterlegen ist. Die Politik von immer stärker auftretenden Aktionären mit primär spekulativen Interessen („Hedge Fonds“), wie wir sie zuletzt beim Kampf um die Deutsche Börse gesehen haben, macht da skeptisch: Ein Aufsichtsrat klassischer Prägung könnte das Unternehmen in seinem langfristigen Interesse gegen marginale oder spekulative Interessen sichern helfen. Die Kalamitäten um die deutsche Börse haben davon allerdings nicht viel erkennen lassen.

Ob die Gewerkschaften als Bürokratien ihrer Mitglieder das Recht haben sollten, ein Vorstandsmitglied („Arbeitsdirektor“) zu benennen und quasi in den AG-Vorstand zu entsenden, steht auf einem anderen Blatt. Ob schließlich die Gewerkschaften zur Sicherung ihrer Streikfähigkeit gewaltige Summen anhäufen müssen, die sie dann so sträflich verwalten, dass von der Neuen Heimat bis zu Rheinboden Milliardenverluste anfallen, ist ein weiteres Thema.

Gewarnt werden muss hier aber vor den richtigen Argumenten von der falschen Seite: Dies ist eine Diskussion, die die Gewerkschaften mit sich selbst und ihrem parteipolitischen Lager führen müssen. Vielleicht müssen sie diese Diskussion sogar mit allen Parteien führen. Am Ende jedenfalls gehören Entscheidungen zunächst in die Organisationen der Betroffenen und dann ins Parlament. Die notorische Hans-Olaf-Henkelsche Polemik ist nicht die Stimme des Souveräns, sie ist nicht mal die Stimme des Volkes.

Klaus Kocks

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